Eine Erklärung von höchster Stelle zur Menschlichkeit
des Islam
Nach den Attentaten:
Eine Erklärung zur Menschlichkeit des Islam / Von Sajjid
Mohammed Tantawi, Scheich von al Azhar
Der Islam ist nicht als Kirche organisiert, er kennt kein offizielles
Lehramt in Angelegenheiten der Dogmatik wie des Rechts.
Der sunnitische Islam, dem etwa neunzig Prozent der 1,2 Milliarden Muslime
angehören, wird durch vier orthodoxe, regional unterschiedlich verbreitete
Rechtsschulen (madhahib) repräsentiert, die in
Einzelheiten der Scharia, des islamischen Sakralrechts, und der Dogmatik
voneinander abweichen.
Die Schiiten verfügen mit der Dschaafari-Schule über
eine eigene Ausprägung des religiösen Rechts.
Im sunnitischen Islam kommt gleichwohl dem Großscheich von al Azhar zu Kairo eine besondere Autorität zu. Seine "Fatwas" (religiösen Rechtsgutachten) sind nicht
automatisch verbindlich für alle Muslime, geben aber doch eine autoritative
Richtung vor, die von vielen Muslimen wegen der Altehrwürdigkeit der al Azhar und des Ansehens ihrer Gelehrten respektiert wird.
Die Moschee und Universität al Azhar ist älter als
tausend Jahre. Sie enstand, nachdem die Fatimiden im Jahr 969 Kairo und Ägypten erobert und ihrem
Reich einverleibt hatten. An den Rechtsentscheidungen der
Scheichs im zwanzigsten Jahrhundert läßt sich sehr
schön ablesen, ob Reformen oder konservative Strömungen populär waren. Auch die
mehr oder weniger große Nähe zur staatlichen Gewalt spiegelt sich in manchen Fatwas wider. Der gegenwärtige Scheich von al Azhar, Sajjid Mohammed Tantawi, gilt als "Liberaler" innerhalb der Kaste
der Rechtsgelehrten des Islams, der ulema; er
versucht, die auseinanderdriftenden Rechtsauffassungen unter den Muslimen
zusammenzuhalten und besonders islamistische und
terroristische Gruppen zu zügeln. Ein weiteres Anliegen ist ihm die
Verständigung mit der nicht-muslimischen Welt, an der er gelegentlich durch
Reisen nach Europa teilnimmt. In Fragen der islamischen Ethik (achlaq) vertritt Scheich Tantawi
im allgemeinen moderate Auffassungen, er will, dass
die Menschen aus Einsicht, nicht aus Zwang handeln.
In der Palästina-Frage hat
er freilich entschieden das Widerstandsrecht gegen die israelische Besatzung
und Landnahme hervorgehoben, das den Kern des islamischen Kriegsrechtes ausmache.
Seine Gegner sind die "Dschihadisten" und
andere Militante, die das Selbstmord-Martyrium des Terrorismus predigen und
ebenso rechtfertigen wie den Angriffskrieg zur Verbreitung der Herrschaft des
Islams. Scheich Tantawis Urteil über Mord und Selbstmord
ist eine gewichtige, wenn auch nicht autoritativ verpflichtende Stimme.
Herausgefordert hat dieses mit einem persönlichen Brief Jürgen Todenhöfer, der ehemalige CDU-Politiker und
stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Burda. Er wandte sich an Scheich Tantawi mit der Bitte, das Zerrbild des Islam aufzuhellen,
der in Europa und den Vereinigten Staaten nurmehr als
"grausamer, alles Zivilisatorische verzehrender Feuerball"
wahrgenommen werde. "Sie sollten", schrieb Todenhöfer,
"klarstellen, dass religiös begründeter Terrorismis
kein heiliger Krieg, sondern eine Beleidigung des Namens Gottes ist. Sie
sollten dem Terrorismus seine religiöse Maske vom Gesicht reißen und seine
destruktiv nihilistischen Züge offenlegen." Die
Antwort, die auf diesen Brief folgte, ist die hier zu lesende.
wgl. Friede und Segen Allahs sei mit Ihnen! Ich habe
Ihren Brief erhalten und möchte Ihnen meine Wertschätzung ausdrücken für die
Mühe, die Sie auf sich nehmen, um ein korrektes Bild des wahren Islams in
Deutschland zu vermitteln, damit ein Dialog auf sicheren und objektiven
Fundamenten stattfinden kann.
Schon unmittelbar nach der Aggression auf New York und Washington am 11.
September 2001 habe ich betont, dass der Islam
zum Schutz des Lebens Unschuldiger aufruft und dass der Islam Blutvergießen
verbietet. Der Koran und die reinen Überlieferungen des Propheten (Ahadith) rufen die Menschen auf, sich einander zu erbarmen,
sich für das Gute einzusetzen und Sünde
und Aggression zu verwerfen. In einem Vers des Koran erklärt uns Allah, der
Erhabene, dass, wenn jemand einen Menschen tötet, es so ist, als ob er die
ganze Menschheit getötet habe: "Wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen
Mord begangen hat oder ohne dass ein Unheil auf Erden geschehen ist, sei es so,
als hätte er die ganze Menschheit getötet. Und, wenn jemand einem Menschen das
Leben erhält, sei es so, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten"
(Sure 5, Vers 32).
Die Gesamtheit der islamischen Gebote ruft
alle Menschen auf, zusammenzuarbeiten, um
das Leben der Menschen zu schützen, gleichgültig, ob sie Muslime, Christen
oder Juden sind. Das gilt nur dann nicht, wenn ein Mensch einem anderen Unrecht
getan hat. Dann wird der Rechtsbrecher vor ein Gericht gestellt, das ihn so
bestraft, dass er nicht rückfällig wird.
Der Islam ist gegen alle Formen und
Facetten des Terrorismus. Er schützt
und bewahrt das menschliche Leben. Wir stehen
auf der Seite derjenigen, die ihr Land und ihre Würde verteidigen, da sie
sich für das Recht einsetzen und verteidigen, was zu verteidigen ist. Terrorismus aber bekämpfen wir, weil er ein
Unrecht gegen die Menschheit darstellt.
Wir sind nicht damit einverstanden, dass sich jemand inmitten unschuldiger
Menschen, Frauen und Kinder in die Luft sprengt. Wer sich aber inmitten von
Soldaten, die ihn töten wollen, oder inmitten einer Armee, die seine Heimat
vergewaltigt, in die Luft sprengt, ist ein Märtyrer.
Jeder Mensch, ob Muslim oder Nicht-Muslim, also unabhängig vom Glauben, ist
berechtigt, sich zu verteidigen. Dieser Sachverhalt ist integraler Bestandteil
allen Rechts und entspricht der menschlichen Logik. Der Koran spricht eindeutig
vom Recht auf Selbstverteidigung: "Jedoch trifft kein Tadel jene, die sich wehren,
nachdem ihnen Unrecht widerfahren ist" (Sure 42, Vers 41).
Dies sind die Worte Allahs. Wer den Aggressor bekämpft, sich und sein Land
verteidigt, dem wird Allah, der Erhabene, zur Seite stehen und ihn verteidigen.
Ihn trifft deswegen keine Sünde. Eine harte Strafe wartet auf diejenigen, die
den Menschen Unrecht tun und Unheil auf Erden verbreiten. Es steht außer
Zweifel, dass jeder Staat, der einen Terroristen, der rechtlich verurteilt
wurde, beherbergt und ihm Unterschlupf bietet, ein terroristischer Staat ist.
Dieser Staat soll nach islamischem Recht, nach menschlichem Verstand und nach
geltendem Recht geächtet werden. Wer
Terrorismus fördert, wird selbst am Terrorismus zugrunde gehen.
Zur Menschlichkeit des Islams während eines Krieges erkläre ich folgendes: Der
Islam hat für den Kampf in bestimmten Fällen konkrete Regeln vorgeschrieben. Er
ruft zum Kampf nur gegen diejenigen auf, die sich zum Kampf gegen ihn gerüstet
haben. Aber er verbietet die Tötung von alten Menschen, Frauen und von Kindern,
er verbietet auch die Zerstörung des Ackerbaus und das Fällen nutzbringender
Bäume und das Abschlachten von Tieren, wenn sie nicht zum Verzehr vorgesehen
sind. Ich kenne keine Religion wie den Islam, die Menschlichkeit, Erbarmen,
Gerechtigkeit und Toleranz in kriegerischen Auseinandersetzungen in derartig
umfassender Weise sogar auf Feinde ausdehnt.
In der Schlacht von Mu'taa kam der Armeeführer
Abdullah Ibn Rauaha zum
Propheten, Allahs Friede sei mit ihm, und sagte: "Oh Prophet Gottes, gib mir einen Ratschlag." Der Prophet,
Allahs Friede sei mit ihm, antwortete: "Du sollst Allahs viel gedenken." Er bat um mehr Ratschläge,
und der Prophet antwortete: "Ihr
sollt nicht ausbeuten, keinen Verrat begehen, kein Neugeborenes, kein Kind,
keine Frau und keine Jugendlichen töten und keinen Baum fällen. Ihr werdet
Menschen begegnen, die sich in Gebetshäusern aufhalten, ihr dürft sie nicht
stören."
Der erste Kalif der Muslime, Abu Bakr, befahl seiner
Armee unter der Führung von Usama Ibn
Zaid: "Befolgt
diese zehn Ratschläge: Begeht keinen Verrat! Betreibt keine Ausbeutung! Seid
nicht arglistig! Verstümmelt niemanden! Tötet keine Kinder, keine alten
Menschen und keine Frauen! Vernichtet und verbrennt keine Dattelpalmen! Fällt
keine nutzbringenden Bäume! Schlachtet kein Schaf, keine Kuh, kein Kamel, es
sei denn zur Nahrung! Ihr werdet Menschen antreffen, die der Welt entsagt haben
und in Zurückgezogenheit leben; laßt sie in ihrer
Andacht in Frieden! Ihr werdet Menschen begegnen, die euch verschiedene Speisen
anbieten. Wenn ihr etwas davon eßt, so sollt ihr
dabei Allahs Namen aussprechen."
Der Islam definierte die Anwendung der Menschlichkeit in Friedens- und in
Kriegszeiten, lange bevor die Moderne hierzu internationale Verträge und
Abkommen erarbeitete. Die islamische Forschungsakademie von al Azhar, ein Gremium, in dem die höchsten Gelehrten der al Azhar vertreten sind, ist am 1. November 2001 unter meinem
Vorsitz zusammengekommen und hat eine Erklärung über das Phänomen des
Terrorismus aus islamischer Sicht verfaßt. Ich führe
hier die wichtigsten Punkte auf:
- Der Islam betrachtet die Vielfalt der religiösen Wege, der
Völkergemeinschaften, Nationen, Kulturen und Zivilisationen als göttliche
Ordnung, als universelles Gesetz, das unveränderlich bleibt, da Allah, der
Erhabene, sagt: "Und hätte dein Herr es gewollt, so hätte Er die Menschen alle
zu einer einzigen Gemeinde gemacht; doch sie wollten nicht davon ablassen,
uneins zu sein" (Sure 11,Vers 118).
- Das Zusammenleben, der Dialog und
das gegenseitige Erkennen zwischen Völkern und Nationen sind der Weg zum Erhalt
dieser Vielfalt. Alle sind verpflichtet, gemeinsam für das Gute einzustehen und das Schlechte und die Feindseligkeit zu
verwerfen.
- Das Zusammenleben der Nationen und
Völker und der Fortschritt der Menschheit hängen von der Omnipräsenz
der Ethik und der religiösen Werte - vor allem der Gerechtigkeit - und vom
Respektieren der Grundsätze des internationalen Rechts und der Autorität der
internationalen Institutionen ab.
- Terrorismus bedeutet: Friedfertige
in Angst zu versetzen, deren Interessen und Lebensgrundlagen zu zerstören. Terrorismus
ist ein Angriff auf ihr Hab und Gut, ihre Ehre und Freiheit und ihre
Menschenwürde. Er verbreitet Verderbnis und Unheil auf Erden. Jedem Staat, der
von verbrecherischem Terror heimgesucht wird, gebietet das Recht, nach den
Verbrechern zu suchen und sie den juristischen Institutionen zu überstellen,
damit ein gerechtes Urteil über sie gefällt wird.
- Dschihad gemäß dem Islam bedeutet, das Äußerste
an Mühe aufzubringen, das Recht zu unterstützen, das Unrecht zu bekämpfen, die
Gerechtigkeit und den Frieden und die Sicherheit in allen Lebensbereichen
umzusetzen.
- Man darf auf den Kampf (Al-Qital), den der Islam in absoluten Ausnahmesituationen
legitimiert, nur in zwei Situationen zurückgreifen: um die Heimat gegen
territoriale Okkupation, Ausplünderung der Ressourcen, gegen Vertragsbruch und
Siedlungskolonialismus (einschließlich seiner Unterstützer), der zur
Vertreibung der Muslime aus ihrer Heimat führt, zu verteidigen. Oder wenn
Muslime unter Druck gesetzt werden, ihren Glauben zu wechseln. Dies ist im
folgenden Koranwort begründet: "Allah verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des
Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben
haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; gewiß,
Allah liebt die Gerechten. Doch Allah verbietet euch, mit denen, die euch des
Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und
geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Wer mit ihnen
Freundschaft schließt - das sind die Missetäter" (Sure 60, Vers
8 & 9).
- Auch für den Fall, dass Muslime zum Kampf gezwungen werden, um ihre Heimat zu
verteidigen und ihre Glaubensfreiheit zu schützen, hat der Islam klare ethische
Normen und Verhaltensregeln aufgestellt, wie zum Beispiel das Verbot, Nicht-Kombattanten
zu töten, ebenso Unschuldige, alte Menschen, Frauen und Kinder. Er verbietet
auch, Flüchtende zu verfolgen, sich Ergebende umzubringen, Gefangenen Schmerzen
zuzufügen, Leichen zu schänden. Er verbietet weiterhin, Einrichtungen,
Stellungen und Bauten, die mit dem Kampf nichts zu tun haben, zu zerstören.
- Die israelische Kriegsmaschinerie raubt das Territorium der Palästinenser und
befleckt Heiligtümer vor den Augen einiger Großmächte, während der
palästinensische Widerstand sich darauf konzentriert, die Durchsetzung der
verabschiedeten UN-Resolutionen zu erwirken.
- Der Kampf gegen den Terror, den die islamische Forschungsakademie
unterstützt, rechtfertigt nicht den tyrannisierenden, gewaltsamen und
grundlosen Angriff auf das arme und wehrlose afghanische Volk, dessen Städte,
Dörfer, Moscheen, dessen alte Menschen, Frauen und Kinder und dessen
Lebensgrundlagen, ohne dass Ermittlungen zu den Geschehnissen vom 11. November
2001 aufgenommen worden waren.
- Die islamische Forschungsakademie der al Azhar
sieht die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen dem erlaubten und, wie oben
aufgeführt, ja sogar vorgeschriebenen Dschihad,
nämlich die Heimat zu befreien und auf Aggression zu reagieren, und zwischen
aggressiver Gewalt, die das Land anderer besetzt, die Regierungen anderer
Länder gewaltsam oder durch eine Invasion stürzt oder die Souveränität
nationaler Regierungen auf ihrem Territorium einschränkt oder friedfertige
Zivilisten in Angst und Schrecken versetzt und sie zu elenden Flüchtlingen werden
läßt.
- Die islamische Forschungsakademie von al Azhar
lehnt die Thesen "Clash of Civilisations",
"Krieg der Religionen" und "Kampf der Kulturen" ab, da sie
den geistigen Nährboden für den Angriff von Tyrannen auf die Schwachen bietet.
Die Akademie sieht die Notwendigkeit:
- der Wiederherstellung des Respekts vor den Grundlagen der menschlichen
Gerechtigkeit,
- der Rückkehr zu den Grundsätzen des internationalen Rechts und zu den
internationalen Institutionen,
- der verpflichtenden Einhaltung eines einheitlichen Maßstabes im Bezug auf die
Souveränität der Völker und deren Selbstbestimmungsrecht und
- der Rückbesinnung auf die religiöse Werteordnung, die von allen
monotheistischen Religionen anerkannt wird.
Dies ist der Garant zur Heilung der Ursachen der Krankheiten, von denen unsere
zeitgenössische Welt befallen ist. Gewalt der Tyrannen erzeugt Gegengewalt der
Unterdrückten und Schwachen!
Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und dem
Menschen appelliert die islamische Forschungsakademie von al Azhar mit dieser Erklärung an alle Vernünftigen dieser
Welt, in der Hoffnung, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu erreichen. Sie
fleht Allah, den Allmächtigen, an, er möge allen den rechten Pfad weisen.
Aus dem Arabischen von Khaled Alzayed.