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Bismillah

Menschliche Freiheit und Verantwortung [1]
Imam Al Ghazzali -

aus:
"SOME MORAL and RELIGIOUS TEACHINGS of AL - GHAZZALI"

by SYED NAWAB ALI
Published by:
SH. MUHAMMAD ASHRAF, Pakistan

Übersetzer: Muhammad M. HANEL

 

 

 

Handlungen sind entweder freiwillig oder unfreiwillig. Der Unterschied zwischen beiden besteht nicht in der Art sondern im Grad. [2] Untersuche einmal den Ablauf einer unfreiwilligen Handlung und du wirst feststellen, dass, wenn jemand versucht, dir eine Nadel ins Auge zu stechen oder dich mit einem Schwert einen Kopf kürzer zu machen, sich im ersten Fall dein Auge (automatisch) schließen wird und im zweiten Fall, deine Hände hochfahren werden, um deinen Kopf zu schützen. Dieses prompte Handeln, die Reaktionen deines Auges oder deiner Hände geschehen aus dem Bewusstsein des Schadens, welchem du zu entgehen versuchst und dieses bedingt die Willensanstrengung das Auge unverzüglich zu schließen, bzw. die Hände noch oben zu fahren.

Es gibt also Fälle wünschenswerter Abwehr, die zwar der Überlegung bedürfen, und doch entscheidet der Verstand im unmittelbaren Moment das Handeln, und diese Entscheidung wird, wie im obigen Fall, ohne geringstes Zögern umgesetzt.

 

Dieses Überlegen, welches die Wahl zwischen Handeln oder Nichthandeln bestimmt, begründet den Willen. Dieser Wille trifft die Wahl zwischen zwei Alternativen und lässt sich entweder von der Phantasie oder der Vernunft beraten. Zum Beispiel schafft ein Mensch es nicht, sich selbst die Kehle durchzuschneiden und dies aber nicht, weil er zu schwach oder kein Messer zur Hand wäre, sondern weil sein Wille zu schwach ist, um den Impuls zum Selbstmord zu liefern. Denn der Mensch liebt sein eigenes Leben. Doch nehmen wir an, der Mensch wird wegen unerträglicher körperlicher Schmerzen oder psychischem Leids seines Lebens müde – so hat er nun zwischen zwei unerwünschten Alternativen zu entscheiden. Ein Kampf beginnt und er schwebt zwischen Leben und Tod. Wenn er glaubt, dass der Tod, welcher seinen Leiden ein schnelles Ende bereiten wird, dem Leben vorzuziehen ist, welches seine unerträglichen Schmerzen doch nur verlängert, wird er den Tod wählen, obwohl er das Leben liebt. Diese getroffene Wahl aktiviert den Willen, dessen Befehle, wenn durch die entsprechenden Kanäle kommuniziert, getreulich von seinen Händen ausgeführt werden und ihn Selbstmord begehen lassen. So ist, obgleich der Prozess vom Beginn des mentalen Konfliktes aufgrund der Entscheidung zwischen zwei Alternativen, bis hin zum Impuls zur physischen Handlung gleichsam (vor)bestimmt, determiniert abläuft, doch eine gewisse Form der Freiheit im Willen zu finden.

 

Der Mensch befindet sich im Gleichgewicht zwischen Bestimmung und Freiheit. Der gleichförmige Ablauf von Geschehnissen liegt auf der Linie der Bestimmung, doch die Wahl, welche ein wesentlicher Bestandteil des Willens ist, ist die seine. Unsere Ulema hat daher einen eigenen Ausdruck geprägt: Kasb (Erwerb, Aneignung, Übernahme) im Unterschied zu Jabr (Notwendigkeit, Zwang, Muss). Sie sagen, dass Feuer notwendigerweise (Jabr) brennt, doch der Mensch in der Lage ist, sich durch entsprechende Maßnahmen das Feuer anzueignen und in Gott die erste und letzte Ursache (Ikhtiyar) für Feuer liegt. Es muss aber beachtet werden, dass wenn wir das Wort Ikhtiyar für Gott verwenden, wir den Gedanken an Wahl dabei ausschließen, denn diese ist ein wesentliches Merkmal des menschlichen Willens. Lasst es uns ein für allemal klarstellen, dass es ein allgemeines Prinzip ist, dass alle Begriffe aus dem menschlichen Vokabular, wenn sie auf Gott bezogen werden, metaphorisch [3] aufzufassen sind.

 

Es mag hier die Frage aufgeworfen werden: Wenn Gott die ultimative (erste und letzte) Ursache ist, warum sollte dann ein kausaler Zusammenhang im Ablauf von Geschehnissen bestehen?

 

Die Antwort liegt im korrekten Verständnis der Natur der Kausalität.

 

Nichts bedingt irgendetwas. Vorgängiges zieht Nachfolgendes, Konsequenzen nach sich. [4] Gott alleine ist (für alles) ausreichende Ursache, doch die Unwissenden haben dies missverstanden und das Wort Macht falsch angewandt. Was die geordnete Abfolge von Ereignissen betrifft, so sollte verstanden werden, dass zwei aufeinander folgende Ereignisse aneinander gebunden sind wie die Verbindung des Bedingenden mit dem Bedingten. Nun gibt es Bedingungen welche ziemlich offensichtlich sind und selbst von Leuten mit geringem Verstand erkannt werden. Allerdings gibt es auch Bedingungen, welche nur von Menschen erkannt und verstanden werden, welche sie im Licht der intuitiven Erkenntnis betrachten: daher irrt die Mehrzahl in der Beurteilung geregelter Abläufe von Ereignissen.      

       

Es besteht eine göttliche Absicht in der Verbindung von vorgängigen Ereignissen mit ihren Konsequenzen, welche sich dann ohne geringste Unterbrechung oder Unregelmäßigkeit in der erfahrbaren, geordneten Abfolge von Geschehnissen manifestieren. Der Qur’an sagt: „

 

„Und wahrlich Wir erschufen die Himmel und die Erde, und das, was zwischen beiden ist, nicht zum Zeitvertreib. Wir erschufen sie nur in gerechter Weise, jedoch die meisten von ihnen wissen es nicht. [44:38-39]

 

Gewisslich gibt es festgelegte Absicht und Bestimmung, welche das Universum durchziehen. Der regelmäßige Ablauf von Geschehnissen geschieht nicht willkürlich. Es gibt so etwas wie Zufall nicht. Nun mag man wieder fragen: Wenn Gott die vollkommen ausreichende Ursache ist, was ist dann von jenen Handlungen zu halten, für welche der Mensch, gemäß den Schriften, zur Verantwortung gezogen wird? Müssen wir davon ausgehen, dass es zwei Ursachen für eine Wirkung gibt? Meine Antwort darauf ist, dass der Begriff Wirkung nur sehr vage verstanden wird. Er kann auf zwei verschiedene Weisen begriffen werden. Gerade so, wie wir sagen können, dass der Tod von A durch (1) B, den Henker und (2) C, des Königs Befehl verursacht wurde.

Beide dieser Feststellungen sind richtig. Gleicherweise ist Gott der Verursacher der Handlung, denn Er besitzt die schöpferische Kraft und Fähigkeit. Gleichzeitig ist der Mensch die Ursache für die Handlung, da er die Grund für die Manifestation einheitlicher Abfolgen von bestimmten Geschehnissen ist. Im ersten Fall haben wir eine reale, kausale Verbindung, wohingegen im zweiten Fall die Verbindung des Vorausgehenden zum Folgenden nach der Art einer Verbindung zwischen der Bedingung zum Bedingten, der Ursache zum Verursachten besteht. Es gibt Abschnitte im Qur’an in welchen das Wort Ursache in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird.

 

Sprich: "Der Engel des Todes, der über euch eingesetzt wurde, wird euch abberufen; dann werdet ihr zu eurem Herrn zurückgebracht." [32:11]

Allah nimmt die Seelen (der Menschen) zur Zeit ihres Sterbens (zu Sich) … [39:42]

 

Habt ihr betrachtet, was ihr aussät? [56:63]

Siehe, Wir gossen das Wasser in Fülle aus. Alsdann spalteten Wir die Erde in wunderbarer Weise und ließen Korn in ihr wachsen [80:25-27]

 

Bekämpft sie; so wird Allah sie durch eure Hand bestrafen und demütigen und euch gegen sie helfen und den Herzen eines gläubigen Volkes Heilung bringen; [9:14]

Nicht ihr habt sie erschlagen, sondern Allah erschlug sie. Und nicht du hast geschossen, sondern Allah gab den Schuss ab; und prüfen wollte Er die Gläubigen mit einer schönen Prüfung von Ihm. Wahrlich, Allah ist Allhörend, Allwissend. [8:17] [5]

 

Diese Abschnitte zeigen, dass das Wort Ursache die schöpferische Macht bezeichnet und nur auf Gott bezogen angewandt werden kann. Da aber die Macht des Menschen der Abglanz, die Reflexion der göttlichen Macht ist, wird dieses Wort - auf den Menschen bezogen - nur bildlich verwendet. Dennoch, auch wenn der Tod eines Verurteilten durch den wirklich ausgeführten Schwertstreich des Henkers verursacht wird und nicht unmittelbar durch den Befehl des verurteilenden Königs, wird der Begriff Ursache, auf den Menschen bezogen - im Gegensatz zur Wirklichkeit - angewandt. Gott alleine ist die wirkliche, umfassende Ursache und dieser Begriff muss auf Ihn bezogen, in seiner wirklichen und ursprünglichen Bedeutung - in Hinsicht auf Macht und Vermögen - verwendet werden.

 

Nun mag man fragen, warum der Mensch aufgrund seiner guten Taten belohnt und wegen seiner schlechten Handlungen bestraft werden sollte.

Wollen wir also zuerst die Natur von Belohnung und Bestrafung untersuchen. Die Erfahrung lehrt uns, dass die Dinge natürliche Eigenschaften in sich tragen und die physikalischen Gesetze in geordneter Art und Weise ablaufen. Nehmen wir zum Beispiel die Medizin. Bestimmte Wirkstoffe haben bestimmte Auswirkungen. Wenn ein Mensch aus eigenem Antrieb Gift zu sich nimmt, hat er kein Recht zu fragen, warum dieses Gift ihn tötet. Die natürlichen Wirkstoffe haben ganz einfach mit seinem Organismus interagiert und ihn umgebracht. In gleicher Weise verursachen bestimmte Handlungen bestimmte Eindrücke, hinterlassen bestimmte Spuren in seinem Gemüt. Gute und schlechte Handlungen ziehen unweigerlich entweder Freude oder Leid nach sich. Eine gute Tat ist ihre eigene Belohnung der Freude und eine schlechte als Schmerz. Die erste wirkt wie ein Elixier, die zweite wie Gift. Diese Eigenschaften, Beschaffenheit der Handlungen wurden entdeckt, gerade so wie die Entdeckungen in der Medizin, allerdings von den Ärzten der Herzen, den Heiligen und Propheten. Wenn du nicht auf sie hören willst, wirst du schon selbst die Konsequenzen spüren. Höre folgendes Gleichnis:

 

Ein König sandte einst ein Pferd, ein Ehrenkleid und eine volle Reisebörse an einen seiner Fürsten in einer weit entfernten Provinz. Auch wenn der König nicht des Fürsten Dienste bedurfte, so wollte er ihn durch diese königlichen Gaben dazu bewegen, sich an des Herrschers Hof zu begeben, um in seiner Gegenwart eine glückliche Zeit zu verbringen. Wenn der Fürst die Absicht des Königs aus der Art der Geschenke abzulesen vermochte, sie entsprechend und mit dankbarem Herzen verwendete, würde er dem König seine Aufwartung machen und in Glück und Freude leben. Wenn er diese Gaben aber zweckentfremdete und sie missachtete, erwiese er sich als ein wohl undankbarer Wicht.

 

Entsprechend ist es die endlose Gnade des Allmächtigen und Allwissenden Gottes, welche uns das Geschenk des Lebens verleiht, uns mit einem Körper versieht, mit geistigen und moralischen Fähigkeiten, welche uns bei deren ordentlichem Einsatz in den hohen Stand versetzen, in Seine heilige Gegenwart verbracht zu werden. Wenn wir diese Gaben missbrauchen oder sie gering schätzen – werden wir gewiss als Kafir (wörtlich: Undankbare; die Wahrheit bedeckende) und in Verdammnis enden, denn Seine Gaben wurden uns zu unserem Besten verliehen.

 

Wahrlich“, sagt der Qur’an, Wir haben den Menschen in bester Form erschaffen. Alsdann haben Wir ihn in die niedrigste Tiefe zurückgebracht, ausgenommen (davon) sind diejenigen, die glauben und Gutes tun; ihnen wird ein unverkürzter Lohn zuteil sein.“ [95:46] [6]

 

 

Das Gleichnis der Feder

 

Ein Diener Gottes, der auf dem Weg der Erleuchtung war, fand ein Stück mit schwarzer Tinte beschriebenes Blatt Papier. „Warum“, so fragte er, „hast du dein helles Gesicht geschwärzt?“ „Es ist nicht fair, mich dafür verantwortlich zu machen“ antwortete das Blatt. „Ich hab da gar nichts gemacht. Frag die Tinte, warum sie sich vom Tintenfass, in welchem sie zufrieden ruhte, sich aufmachte und mein Gesicht mit aller Gewalt einschwärzte.“ „Du hast recht“, sagte der Diener Gottes und wandte sich an die Tinte um sie zu befragen. „Warum fragst du mich?“ sagte sie. „Ich saß ganz ruhig in meinem im Fass und dachte gar nicht daran daraus hervor zu kommen, doch diese grobe Feder fuhr in mich hinein, zog mich heraus und verteilte mich über das ganze Blatt. Nun siehst du mich hilflos daliegen, geh zur Feder und frage sie.“

Der Gottergebene wandte sich an die Feder und befragte sie ob ihrer Selbstherrlichkeit. „Was gehst du mir auf die Nerven?“ antwortete die Feder. „Schau mich an, was bin ich schon anderes als ein unbedeutendes Stück Rohr. Ich wuchs am Ufer des silbernen Flusses, mitten unter grünen, schattigen Bäumen, als – plötzlich – sich eine Hand nach mir ausstreckte. Sie hielt ein Messer, welches mich zuerst entwurzelte, dann meine Glieder abschnitt, meinen Kopf spaltete und letztlich abhieb. Kopfüber wurde ich in die Tinte gesteckt und muss nun verächtliche Arbeit verrichten. Füge diesem Unrecht nicht auch noch Vorwürfe hinzu, wende dich an diese Hand und frage sie.“

Der Ergebene Gottes blickte auf die Hand und sagte: „Ist das wahr? Bist du so grausam?“ „Sei nicht ungehalten, Herr“, erwiderte die Hand. „Ich bloß ein Stück Fleisch, Knochen und Blut. Hast du jemals so ein Stück Fleisch aus sich selbst Kraft ausüben sehen? Kann ein Körper sich von selbst bewegen? Ich bin bloß ein Werkzeug, benutzt von jemandem, der Lebenskraft genannt wird. Sie bestimmt über mich, und treibt mich weiter und weiter. Du weißt ja, ein Toter hat auch Hände, doch kann er sie kein bisschen rühren, denn die Lebenskraft hat ihn verlassen. Warum sollte ich, die ich doch nur ein Fahrzeug bin, Vorwurf auf mich nehmen? Geh zur Lebenskraft und frage sie.“ Du hast Recht“ sprach der Ergebene und befragte die Lebenskraft. „Mach nicht mir den Vorwurf“ antwortete diese. „Oftmals wurde der Tadelnde letztendlich selbst gerügt, und der Gerügte ohne Fehl befunden. Woher weißt du, dass ich es war, der die Hand gezwungen hat? Ich war auch schon vorhanden, bevor sie sich bewegte und dachte nicht im Geringsten an eine Bewegung. Ich war gleichsam ohne Bewusstsein und die Zuschauer waren sich meiner auch nicht bewusst. Doch plötzlich tauchte ein Antreiber, eine wirksame Kraft auf und reizte mich. Weder hatte ich die Kraft mich ihr zu widersetzen noch den Wunsch ihr zu gehorchen. Das, was du mir vorwirfst, hatte ich auf ihren Wunsch hin auszuführen. Ich weiß nicht wer diese bevollmächtige Kraft ist. Sie wird Wille genannt und ich kenne sie nur dem Namen nach. Hätte ich zu entscheiden gehabt, ich glaube, ich hätte gar nichts unternommen.“ „In Ordnung“, fuhr der Gottesdiener fort „ich werde die Frage dem Willen vorlegen und ihn fragen, warum er die Lebenskraft mit Gewalt für seine Zwecke benutzte, wo sie doch aus eigenem gar nichts unternommen hätte.“

„Sei nicht vorschnell“, rief der Wille „zufällig kann ich dir ausreichende Erklärung liefern. Seine Majestät, der Verstand, schickte einen Abgesandten, Wissen genannt, der mir über die Vernunft eine Botschaft übermittelte, die hieß: „Du, bewege dich und errege mal die Lebenskraft.“ Ich wurde dazu gezwungen, denn ich muss dem Wissen und dem Verstand gehorchen, aber ich weiß nicht warum. Solange ich keine Befehle erhalte, bin ich glücklich, doch sobald ein Befehl übermittelt wurde, wage ich nicht ungehorsam zu sein. Ob mein König ein gerechter oder ungerechter Herrscher ist, ich muss ihm gehorchen. Ich schwöre, solange mein König zögert oder über eine Angelegenheit nachsinnt, stehe ich still, dienstbereit, doch ab dem Moment der Übermittlung seines Befehls veranlasst mich, der, mir eingeschriebene Gehorsamkeitssinn, die Lebenskraft anzuregen. Du solltest mir daher nichts vorwerfen. Geh zum Wissen und verlange von ihm Auskunft.“

„Du hast Recht“, gestand der Gottesdiener ein und wandte sich an den Geist und seine Gesandten, Wissen und Vernunft um eine Erklärung. Die Vernunft entschuldigte sich damit, indem sie erklärte, sie wäre nur eine Lampe, doch nicht wisse, wer sie entzündet hätte. Der Geist erklärte sich für unschuldig, da er sich als tabula rasa verstand. Das Wissen behauptete, es wäre ein bloßer Eindruck, eine Gravur auf dieser tabula rasa, aufgeprägt, nachdem die Lampe der Vernunft entzündet worden wäre. Daher könne es nicht als Autor jener Schriften bezeichnet werden, die möglicherweise das Werk irgendwelcher unsichtbaren Federn wäre. Der Ergebene Gottes war verwirrt ob dieser Antworten, doch nachdem er sich wieder gefasst hatte, sprach er folgendes zum Wissen: „Ohne Pause bin ich auf meinem Weg der Nachforschung nun unterwegs. An wen ich mich auch immer um eine Erklärung wende, werde ich jedes Mal an jemand anders verwiesen. Trotzdem empfinde ich eine gewisse Befriedigung in meinen Nachforschungen, denn jeder Einzelne gab mir eine plausible Antwort. Doch verzeihe mir, mein Herr Wissen, wenn ich sage, dass mich deine Antwort nicht zufrieden stellt. Du sagst, du wärst nur eine Gravur, die von der Feder nachvollzogen würde. Ich habe die Feder gesehen, die Tinte, die Schreibtafel, das Papier. Diese bestanden aus Rohr, einer schwarzen Mischung aus Russ, aus Holz. Ich habe Lampen gesehen, welche mit Feuer brannten. Aber hier sehe ich nichts dergleichen und dennoch redest du von einer Lampe, der Feder und einer Gravur. Sicherlich hältst du mich nicht zum Besten?“ „Gewiss nicht“, antwortete das Wissen, „ich sprach in größter Aufrichtigkeit. Doch ich sehe deine Schwierigkeit. Deine Mittel sind kärglich, dein Pferd ist eine alte Mähre, deine Reise lang und beschwerlich. Gib dein Unterfangen auf, denn ich fürchte, Du wirst erfolglos bleiben. Wenn du aber bereit bist, Risiken auf dich zu nehmen, dann höre zu.

 

Deine Reise erstreckt sich über drei Gebiete. Das erste ist die irdische Welt. Ihr zugehörigen Gegenstände sind die Feder, die Tinte, das Papier, die Hand, etc., und sie sind genau das, als was du sie gesehen hast. Das zweite Gebiet ist die himmlische Region, welche dann beginnt, wenn du mich zurückgelassen haben wirst. Da wirst du auf dichte Wälder treffen, tiefe Flüsse und hohe, unüberwindliche Berge und ich weiß nicht wie du von dort weiterkommen willst. Zwischen diesen beiden Welten gibt es eine Mittelwelt, sie wird die phänomenale, die Sagenwelt genannt. Du hast drei Stationen in ihr gesehen: die Lebenskraft, den Willen und das Wissen. Um ein Gleichnis zu verwenden: ein Mann, der zu Fuß unterwegs ist, beschreitet die irdische Welt; wenn er ein Boot besteigt, befährt er die phänomenale Welt; wenn er das Boot verlässt und schwimmt oder auf dem Wasser wandelt, befindet er sich in der himmlischen Welt. Wenn du nicht zu schwimmen verstehst, so kehre um. Denn die Wasserwelt der himmlischen Region beginnt, wenn du siehst, wie die Feder auf die Oberfläche des Herzen schreibt. Wenn du nicht zu jenen gehörst, von welchen gesagt wird: „Oh ihr Kleingläubigen, warum zweifelt ihr?“ [7] dann sei gut vorbereitet. Denn durch deinen Glauben sollst du nicht nur auf den Wassern wandeln, sondern durch die Lüfte fliegen.“

Verblüfft stand der Ergebene Gottes eine Weile sprachlos still, bis er sich wieder an das Wissen wandte: „Nun habe ich aber Schwierigkeiten. Die Gefahren des Weges, von welchen du sprachst, beunruhigen mein Herz und ich bin nicht sicher, ob ich stark genug bin, ihnen zu begegnen und letztlich die Oberhand zu behalten.“ „Du kannst deine Kraft einer Prüfung unterziehen“, erwiderte das Wissen. „Öffne deine Augen und richte deinen Blick auf mich. Wenn du die Feder erkennen kannst, wie sie das Herz beschreibt, wirst du meiner Meinung nach in der Lage sein, den Weg weiter zu beschreiten. Denn wer die phänomenale Welt durchqueren kann, klopft an das Tor der himmlischen Welt, in welcher er die Feder das Herz beschreiben sieht.“

 

Der Gottergebene tat, wie ihm gesagt war, doch konnte er die Feder nicht erkennen, denn seine Vorstellung von ihr war keine andere als die von einer aus Rohr oder Holz. Da erweckte das Wissen wieder seine Aufmerksamkeit und sagte: „Der Haken liegt bei folgendem. Weißt du nicht, dass die Einrichtung eines Palastes dem Status seines Besitzers angeglichen ist und widerspiegelt? Nichts im Universum gleicht Gott, [8] daher sind auch Seine Eigenschaften transzendental, übersinnlich. Weder ist Er ein Körper, noch räumlich. Seine Hand ist nicht aus Fleisch, Knochen und Blut. Seine Feder nicht aus Rohr oder Holz. Seine Tinte nicht aus Galle und Vitriol gemacht. Allerdings gibt es eine Menge Menschen, die an einer menschenähnlichen Sicht über Ihn festhalten und gar wenige sind es, die eine transzendentale, reine Vorstellung von Ihm in Ehren halten und glauben, dass Er nicht nur über alle materiellen Begrenzungen, sondern sogar über solche metaphorischer Art erhaben ist. Es scheint als schwanktest du zwischen diesen beiden Ansichten, denn einerseits glaubst du, dass Seine Worte weder Ton noch Gestalt haben, und andererseits kannst du dich nicht zur transzendentalen Ansicht Seiner Hand, der Feder oder der Schreibfläche durchringen. Glaubst du denn, die Bedeutung der Überlieferung: „Wahrlich, Gott erschuf Adam nach seinem Bilde“ wäre auf das äußere menschliche Antlitz beschränkt? Bestimmt nicht: es ist die innere Natur des Menschen, die man durch rechte Einsicht erkennt, welche als das „Antlitz Gottes“ bezeichnet werden mag. [9] Doch höre: Du befindest dich nun auf dem heiligen Berg, auf welchem die unsichtbare Stimme aus dem Dornbusch spricht: „Ich Bin Der Ich Bin. Wahrlich Ich bin dein Gott, zieh aus deine Schuhe …“ [10] Der Ergebene Gottes hörte ganz verzückt zu, als es ihn wie ein Blitz durchfuhr und er die formlose Feder gewahrte, wie sie das Herz beschrieb. „Tausendmal seiest du gesegnet, O Wissen, du hast mich davor bewahrt in den tiefen Abgrund des Anthropomorphismus (Tashbih; Zusprechen von menschlichen Eigenschaften) zu stürzen. Ich danke dir aus tiefstem Herzen. Lange hab ich verweilt, doch nun, Adieu!“

 

Der Diener Gottes nahm nun seine Reise wieder auf. Bei der unsichtbaren Feder angelangt, sprach er sie höflich mit der gleichen Frage an: „Du kennst meine Antwort“, antwortete die geheimnisvolle Feder. „Du kannst die Antwort nicht vergessen haben, welche dir die Feder in der irdischen Welt gegeben hat.“ „Ja, ich erinnere mich daran“, antwortete der Diener Gottes, „doch wie kann es die gleiche Antwort sein, da es doch keine Ähnlichkeit zwischen dir und jener Feder gibt.“ „Dann hast du offensichtlich die Überlieferung vergessen: „Gott erschuf Adam gemäß Seinem Abbild?“ „Nein, mein Herr“, unterbrach der Ergebene, „ich kenne sie auswendig.“ „Und außerdem hast du auch die Verse aus dem Qur’an vergessen: „und die Himmel werden in Seiner rechten Hand zusammengerollt sein ..“ [11]Bestimmt nicht, ich kann den gesamten Qur’an auswendig rezitieren.“ „Ja, ich weiß, und so wie du nun das weite Feld der himmlischen Welt beschreitest, glaube ich, dass ich dir nun ruhig mitteilen kann, dass du die Bedeutung dieser Verse nur von einem negativen Blickwinkel aus verstanden hast. Doch sie haben eine positive Aussage und sollten konstruktiv auf dieser Stufe verwendet werden. [12] Gehe weiter und du wirst verstehen, was ich meine.“

Der Ergebene in Gott sah sich um und fand sich über die Allmacht der göttlichen Eigenschaften nachdenken. Und auf einmal erkannte er die argumentative Kraft der Feder und angestachelt durch seine neugierige Natur, war er drauf und dran, seine Frage dem Göttlichen Wesen vorzulegen, als eine ohrenbetäubende Donnerstimme von oben herab ihm zurief: „Er wird nicht nach Seinen Taten befragt, doch sie werden befragt werden.“ Völlig überrascht, beugte der Diener Gottes sein Haupt in Ergebung.

 

Die Hand göttlicher Barmherzigkeit streckte sich nach dem hilflosen Diener aus und eine zarte Stimme flüsterte in sein Ohr: „Und diejenigen, die in Unserer Sache wetteifern - Wir werden sie gewiss auf Unseren Wegen leiten. Wahrlich, Allah ist mit denen, die Gutes tun. [29:69] Seine Augen wieder öffnend, erhob der Ergebene in Gott sein Haupt in stillem Gebet: „Geheiligt bist Du, Allmächtiger Gott, gesegnet Dein Name, O Herr der Welt! Von nun an, habe ich keine Furcht vor Sterblichem; mein ganzes Vertrauen lege ich in Dich; Deine Vergebung sei mein Trost und Deine Barmherzigkeit meine Zuflucht.“

 

(Licht möge auf das Thema geworfen werden durch das Nachdenken über die Einheit Gottes.)

 

 

 

    Hanel, Schweiz 2005

 

 

 



[1] Ihya ulum du Din IV.5.

 

[2] Siehe auch Kybalion

 

[3] Interessant ist die Bemerkung eines modernen europäischen Schriftstellers dazu: Wenn wir die Vorstellung eines vollkommenen, unendlichen Geistes entwickeln, wir von ihm als einem „freiem“ zu sprechen haben. Denn in diesem Zusammenhang von einer Wahl zwischen Alternativen zu sprechen, bedeutete anzunehmen, dass irgendeine andere, als die beste (einzige) Möglichkeit gewählt werden könnte und dies wäre der Vorstellung von Vollkommenheit entgegengesetzt.

Ein begrenzter Geist, begrenzt an Wissen, Kraft und Macht, von Begierden irritiert, vermag dennoch einen begrenzten Anteil an Selbstbestimmung aufzuweisen, der allerdings erst im Unendlichen vervollständigt werden wird. Er wird nicht zur Gänze (vor)bestimmt von Kräften welche außerhalb seiner selbst liegen … W.R. Sorely: Moralische Werte und Gottesvorstellung, Cambridge 1918, pp 46

 

[4] Hier nimmt Ghazzali Hume voraus. „Sieben hundert Jahre vor Hume, durchtrennt Ghazzali das Band der Kausalität mit der Schärfe seiner Dialektik.“ Journal of American Oriental Science Vol XX, 103.

 

[5] Dieser Abschnitt bezieht sich auf die Schlacht bei Badr, der erste Kampf des Propheten. Die Muslime schlugen den Feind, aber es wird festgehalten, dass es nicht die Muslime waren, sondern Allah; die offensichtliche Bedeutung dessen ist, dass es Allahs Hand war, welche diese Schlacht entschied – um so mehr, als nur 300 Muslime völlig ungenügend gerüstet, gegen mehr als 1000 professionelle und gut bewaffnete Krieger, welche die wachsende Kraft des Islams zu vernichten ausgezogen waren, die Oberhand behielten. Ghazzali führt aus, dass Verneinung und Bejahung in Bezug auf ein und dieselbe Handlung neues Licht auf die Natur der Kausalität wirft. Die Verneinung weist auf Gott als die genügende und wirkliche Ursache hin, während die Bestätigung die frei-willige, getreuliche Ausführung des göttlichen Befehls bezeichnet.

 

[6] Ob der Mensch von Natur aus gut oder schlecht ist, ist eine Frage welche viele Denker seit Anbeginn der Zeiten verwirrte. Verschiedene Antworten wurden geben, die man folgendermaßen zusammenfassen kann.

a.)     Das Schlechte ist angeboren. Die Erziehung bringt das animalisch Rohe nur zum Schweigen. Die Zivilisation ist bloße Fassade – eine zynische Anthropologie, eine Religion der Hoffnungslosigkeit

b.)     Der Mensch ist weder gut noch schlecht. Das Gemüt ist eine Tabula rasa, Gutes und Schlechtes hinterlässt seine Spuren und Eindrücke. Dornen und Rosen werden gleichermaßen gesammelt.

c.)     Gutes und Schlechtes ist gleichermaßen im Menschen vorhanden. Er hat Anteil sowohl an einer engelhaften wie satanischen Natur. Die Entwicklung seiner beiden natürlichen Anlagen hängt von der Kraft äußerer Umstände ab. Gutes und Schlechtes sind wie zwei Samen. Welcher der beiden ausgesät wird und umsorgt wird, wächst zu einem starken Baum.

 

Der qur’anische Ausdruck: „Wir erschufen den Menschen in seiner besten Form“ betont die Reinheit seiner Natur. Er wurde gut und zum Guten geboren, doch hat er das Gute zu erhalten und es zu voller Größe im Kampf des Lebens zu pflegen. Er hat gerade mal einen einzigen Samen des Guten. Wächst dieser heran, wird er Tugend genannt. Wenn dieser zerstört und im Keim erstickt, so wird dies das Böse genannt. Das Böse ist daher also nicht etwas Eigenständiges in ihm, sondern einfach etwas Gegenteiliges, welches seine Seele verkommen lässt und ihn in die tiefsten Tiefen verwirft.

 

Bemerkenswert ist eine korrespondierende Passage aus dem Mathnawi von Jalaluddin Rumi, geb. 1207, siebenundneunzig Jahre nach dem Tod von Al Ghazzali.

 

Wenn der Meister in die Hand des Sklaven reicht den Spaten

So weiß der Sklave was zu tun ist ohne Worte, ohne viel zu raten

Wie dieser Spaten, sind unsre Hände als Hinweis unsres Herrn,

Ja, bedenke, als Seine Weisungen an uns gemacht,

Wenn Seine Hinweise wir in unseren Herzen haben wohl bedacht

Auf sie - wirst du dich verlassen, ihnen gemäß dein Leben in die Form eindrücken,

Wie und wozu auch immer diese Weisungen Seine Absicht dir erschließen

Weihe Ihm dein Werk, dein Leben und nimm von deinem Rücken ab die Last.

So wie Er hört und dich auch hören macht, Er dich dies dann auch vollbringen lässt

Nimm an das Wort von Ihm, Seinen Befehl, die Kraft ihn zu befolgen, du bestimmt dann von Ihm hast.

Such die Vereinigung mit Ihm und vereint werdet ihr euch finden

Der große Einsatz, Betätigung ist echter Dank für Gottes Segen,

Denkst du mit Fatalismus deinen Dank zu binden?

Dank für Segen wird neuen Segen für dich geben

Durch Fatalismus wirst allen Segen weg von dir genommen finden.

Deines Fatalismus Bett sei des Weges Rand 

Und du schlafe nicht solange,

Bis dein Blick des Königs Palasttore fand

Oh – ihr Fatalisten, flieht dem Schlafe nicht vergebens

Bis ihr nicht gelangt zum fruchtbelad’nen Baum des Lebens.

Mathnawi; J. Rumi

 

[7] Mathäus 14:53-31 Luther: - 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. 26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

 

[8] Es gibt nichts Seinesgleichen; und Er ist der Allhörende, der Allsehende. [42:11]

 

[9] Genesis 1:27

 

[10] Exodus 3:14

 

[11] Und sie haben Allah nicht richtig nach Seinem Wert eingeschätzt. Und am Tage der Auferstehung wird die ganze Erde in Seinem Griff sein, und die Himmel werden in Seiner rechten Hand zusammengerollt sein. Preis (sei) Ihm! Hoch Erhaben ist Er über das, was sie anbeten.[39:67]

 

[12] Ghazzali hat sich mit dieser Frage ausführlich in seinem Buch „Iljamal awam“ befasst. Er sagt, dass jedes Objekt vier Existenzformen besitzt. Zur Veranschaulichung: Feuer ist (1) auf Papier geschrieben, (2) als Feuer ausgesprochen, (3) brennt und (4) wird als flammend vom Geist erfasst. Die ersten beiden sind von gewöhnlicher Art und dienen erzieherischen Zwecken. Gleicherweise sollten die Anthropomorphismen in obigen Versen verstanden und studiert werden.