Kritische Anmerkungen zu “ISLAMISCHE
CHARTA“
Ahmad v. Denffer
In AL-ISLAM Zeitschrift von Muslimen in
Deutschland Nr. 2/2002
Anlässlich des vergangenen
Opferfestes, ‘idu-l adha,
überraschte der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) die Öffentlichkeit
mit seiner in Berlin verkündeten “Islamische Charta“. Das schien zunächst
erfreulich, insbesondere, als hier offenbar ein Gedanke aufgegriffen wurde, den
wir in der Zeitschrift Al-Islam vor etwa 5 Jahren angeregt und diskutiert
hatten Zur Erinnerung ein Zitat:
“... Es scheint, dass wir ... uns einer
sehr ernsten Debatte stellen müssen ... Wir haben ja nicht einmal einen
Grundvertrag, der uns als Muslime und unsere Rechte - als Muslime, nicht bloß
als Bürger dieses Staates überhaupt anerkennt. Zu dieser Debatte - nennen wir
sie der Einfachheit halber “Grundsatzdebatte“ - seien die Muslime in
Deutschland und ins besondere ihre Institutionen hiermit erneut und öffentlich
aufgefordert. Sie sollten sich dem nicht länger entziehen, sondern in den
kommenden Wochen und Monaten, in denen ja zahlreiche Veranstaltungen und
Konferenzen stattfinden, dieses Thema auf- greifen und diskutieren, in ihren
Zeitschriften und Veröffentlichungen darüber berichten und schließlich zu einer
Art Grundsatzerklärung finden, mit deren Hilfe die eigene Position und die
Zielvorstellungen der Muslime in Deutschland und für Deutsch land, das Land in
dem wir leben, für jedermann erkennbar und unmissverständlich formuliert werden."
(Al-Islam Aktuell 4/1996, S.
1-2; (vgl. auch Al Islam 3/1996, S. 11-14).)
Darüber, dass dieser Schritt
nun doch erfolgte, sollte man also froh sein. Beim näheren Hinsehen stellte man
aber fest, dass hier, aus welchen Beweggründen auch immer, ein Schnellschuss
losgegangen ist, wobei verschiedene wichtige Gesichtspunkte außer Acht gelassen
und teilweise sogar falsch dargestellt wurden.
Als erstes kommt man nicht
umhin zu bemängeln, dass der ZMD hier in eigenem Namen und damit auch in
eigenem Interesse gehandelt und das Gesamtinteresse der Muslime in Deutschland
außer acht gelassen hat. Denn diese Charta muss ja
heutzutage auch im Zusammenhang mit den Diskussionen um den Islam und die
Muslime in Deutschland nach dem 11. September 2001 gesehen werden. Dadurch, dass
der ZMD dieses “Positionspapier“ im eigenen Namen vorlegte, entzog er von vorn
herein allen, die ihm nicht angehören - und das ist die große Mehrheit der
Muslime in Deutschland - die Möglichkeit, an der Erarbeitung der Charta
mitzuwirken und sich auf diese Weise damit zu identifizieren. Dieses Manko kann
der später erfolgte Versuch, die muslimische Öffentlichkeit einzuladen, sich -
Wochen nach der Veröffentlichung - zur Charta zu äußern, nicht wieder
gutmachen. Die Charta ist längst verabschiedet, und zwar allein im Namen des
ZMD. Das lässt allen anderen nur noch die Möglichkeit, sich entweder anzuschließen,
wodurch die “Vorreiterrolle“ des ZMD gesichert wäre, oder aber auf eine
Veränderung der Charta hinzuwirken, was vom ZMD wohl kaum begrüßt werden
dürfte, nachdem er die Charta offiziell verkündet hat.
Es bleibt also zunächst dabei:
Diese “Islamische Charta“ wurde ohne Rücksicht auf die allermeisten in
Deutschland lebenden Muslime gemacht. Dabei wäre es gerade in diesen Tagen besonders
wünschenswert und notwendig gewesen, vor der Verabschiedung der Charta eine möglichst
breite Diskussion herbeizuführen und a l l e
bedeutenden muslimischen Einrichtungen in Deutschland zu beteiligen. Sicher,
das hätte mehr Zeit und Mühe gebraucht - vorgeschlagen hatte ich das allerdings
schon 1996, und hätte man damals angefangen, wäre man sicher schon vor dem 11
September damit fertig gewesen. Aber es ist auch jetzt nicht einzusehen,
weshalb eine derart wichtige Frage unter Zeitdruck erörtert werden musste und
man auf die Möglichkeit verzichtete, eine von der großen Mehrheit der Muslime
in Deutschland gemeinsam erarbeitete und getragene Erklärung zu verabschieden.
Dieses Qualitätsmerkmal weist die Islamische Charta des ZMD nun nicht auf.
Davon abgesehen hätte eine
möglichst breite Mitwirkung der Muslime in Deutschland sicher dazu geführt, dass
manche Akzente anders gesetzt, dass hier unberücksichtigte Gesichtspunkte mit
eingebracht und dass eine Reihe von Mängeln vor der Veröffentlichung behoben
worden wären. Nachdem der ZMD mit Schreiben vom 12. März darum bat, “die Charta
... unter Muslimen und Nichtmuslimen zu verbreiten, daraufhin das Gespräch mit
allen über ihren Inhalt zu suchen“, soll diese Mithilfe nicht verweigert und im
folgenden auf eine Reihe von Punkten aufmerksam gemacht werden, an denen die
vorgegebene Charta noch berichtigt werden sollte. Am besten wäre es allerdings,
man würde am Ende der nun öffentlichen Diskussion zu einer neuen Erklärung
kommen, die nicht allein im Namen des ZMD erfolgt, sondern von a l l e n bedeutenden muslimischen Verbänden und Institutionen
in Deutschland getragen wird. Das wäre ein echter Beitrag zur Beförderung der
Einigkeit unter den Muslimen einerseits und der wirklich tragfähigen Verständigung
mit den Nichtmuslimen andererseits.
Und nun konkret: Zur leichteren
Lesbarkeit wird der jeweilige Text zunächst zitiert, und durch Anmerkungen
kommentiert. Zum besseren Verständnis sind manche Textpassagen zudem hervorgehoben.
Dass ich gelegentlich auf schon früher erfolgte Stellungnahmen meinerseits
verweise, möge man mir als Beteiligtem an der Diskussion gestatten.
Vorwort
Die
Mehrheitsgesellschaft hat Anrecht darauf zu erfahren, wie d i e M u s l i m e zu den Fundamen ten dieses
Rechtsstaates, zu seinem Grundgesetz, zu Demokratie, Pluralismus und
Menschenrecht stehen.
Obwohl d i e M u s l i m e diese Themen des öfteren behandelten, blieben sie der Mehrheitsgesellschaft
eine umfassende, klar formulierte und verbindliche Antwort schuldig....“
Anmerkung:
1. Zwar stellt der ZMD
anschließend klar, dass er mit dieser Charta “ s e i
n e klare Position“ beschreibt,
doch erwecken die voranstehenden Formulierungen den
Eindruck, als handele es sich dabei um “d i e M u s l i m e“ allgemein, die diese Ansichten
vertreten sollen. Das ist zumindest missverständlich formuliert.
Islamische Charta
Grundsatzerklärung
des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) zur Beziehung der Muslime zum
Staat und zur Gesellschaft.
Anmerkung
1. Der Ausdruck “Islamische Charta“ ist wohl etwas zu hoch
gegriffen. Man fragt sich, was diese Charta zu einer “islamischen“ Charta
macht. Gemeint ist vermutlich damit eine “auf den Islam bezogene“ Charta, missverstanden
werden kann, aber dass es sich dabei um eine “kraft des Islam“ normative Charta
handeln könnte. Angemessener wäre es, von einer “muslimischen“ Charta zu
sprechen oder noch besser “Charta von Muslimen in Deutschland“
Der Islam ist die Religion des Friedens
1.
“Islam“ bedeutet
gleichzeitig Friede und Hingabe. Der Islam sieht sich als Religion, in welcher
der Mensch seinen Frieden mit sich und der Welt durch freiwillige Hingabe an
Gott findet. Im historischen Sinne ist der Islam neben Judentum und Christentum
eine der drei im Nahen Osten entstandenen monotheistischen Weitreligionen und
hat als Fortsetzung der göttlichen Offenbarungsreihe mit diesen viel gemein.
Anmerkungen
1. Bei genauem Hinsehen haben
dieser und auch die folgenden Punkte mit der erklärten Absicht, “zur Beziehung
der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft“ Stellung zu nehmen, eigentlich
nichts zu tun. Vielmehr geht es um eine einleitende Darstellung einiger
wichtiger Grundinformationen zum Islamverständnis. Das ist sicher angebracht,
hätte der Vollständigkeit halber dann aber auch in der Eingangsformulierung
erwähnt werden sollen, die dem nach besser hieße: “Grundsatzerklärung von
Muslimen in Deutschland zum Islamverständnis und der Beziehung der Muslime zu
Staat und Gesellschaft.“
2. Die Anlehnung an die von mir
seit vielen Jahren vertretene Haltung, den Islam als “die Religion des Friedenmachens“ zu beschreiben, ist unverkennbar. Ich freue
mich natürlich darüber, dass dies Früchte trägt. Noch schöner wäre es m.E. gewesen, dabei auch die Formulierung des “Friedenmachens mit Gott“ zu verwenden. (Näheres dazu in
Al-Islam 4/19688, S. 5 ff; vgl. auch: Der Koran. Die Heilige Schrift des Islam
...‚ Einleitung S. VII-VIII).
3. Den Islam wie hier
formuliert “im historischen Sinn ... n e b e n Judentum und Christentum“ zu stellen,
ist falsch. Allenfalls kann man sagen, dass der Islam n a c h Judentum und Christentum folgte. Die Ansicht, dass
der Islam n e b e n Judentum und Christentum steht, wird
vielleicht von nichtmuslimischen Religionswissenschaftlern vertreten, aber kaum
von Muslimen. Letztere sind vielmehr sicher und zudem stolz darauf, dass der
Islam auch historisch gesehen die abschließende der großen Weltreligionen ist.
Den monotheistischen Charakter des Christentums bestreiten zudem viele Muslime,
wo bei sie nicht zu Unrecht auf diesbezügliche Koranaussagen verweisen. Die
hier gebrauchte Formulierung ist darum ausgesprochen missverständlich.
Wir glauben an den barmherzigen Gott
2.
Die Muslime
glauben an Gott, den sie wie arabische Christen “Allah“ nennen. Er, der Gott
Abrahams und aller Propheten, der Eine und Einzige, außer halb von Zeit und Raum
aus Sich Selbst existierende, über jede Definition erhabene, transzendente und
immanente, gerechte und barmherzige Gott hat in Seiner Allmacht die Welt
erschaffen und wird sie bis zum Jüngsten Tag, dem Tag des Gerichts, erhalten.
Anmerkungen
1. Die als Überschrift
gebrauchte Formulierung “Wir glauben ...“ ist
überzeugender als das im nachstehenden Text verwendete eher distanziert
klingende “Die Muslime glauben .." Diese
Inkonsequenz kommt auch noch in manchen anderen Punkten vor und sollte behoben
werden, z.B. “Wir Muslime glauben ...“ statt “Die
Muslime glauben ...“.
2. Die Formulierung,. dass die
Muslime Gott “wie arabische Christen “Allah“ nennen“
verstärkt den schon in Punkt 1 erweckten Eindruck der Abhängigkeit des Islam
vom Christentum. Dies wäre leicht durch die Formulierung zu vermeiden: “Die
Muslime glauben an den einen Gott, den auch die arabischen Christen “Allah“
nennen.“
3. Der Versuch, hier etwas über
das “Gottesverständnis“ der Muslime
auszusagen, muss notgedrungenerweise unvollständig
bleiben. Ob allerdings der Gebrauch antiker philosophischer und christlich-
theologischer Begriffe wie “transzendent“ und
“immanent“ angebracht sind, scheint mir doch
zweifelhaft. Ich bin mir fast sicher, dass kaum einer der Vertreter im
Zentralrat in der Lage sein dürfte, auf Anhieb und unmissverständlich darzulegen,
was Gottes “Immanenz“ nun eigentlich ist und vor allem, wo und wie muslimische
Theologen sich darüber ausgelassen haben ... Auf solche verwirrende
Angleichungen an den christlichen Sprachgebrauch sollte man also verzichten.
Der Koran ist die verbale Offenbarung Gottes
3.
Die Muslime glauben,
dass sich Gott über Propheten wiederholt geoffenbart
hat, zuletzt im 7. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung gegenüber Muhammad, dem
“Siegel der Propheten“. Diese Offenbarung findet sich als unverfälschtes Wort Gottes
im Koran (Qur‘an), welcher von Muhammad erläutert
wurde. Seine Aussagen und Verhaltensweisen sind in der so genannten Sunna überliefert. Beide zusammen bilden die Grundlage des
islamischen Glaubens, des islamischen Rechts und der islamischen Lebensweise.
Anmerkungen
1. Wie schon oben besser “Wir
Muslime“ statt “Die Muslime".
2. Statt “Der Koran ist die verbale Offenbarung Gottes“ kann
es im Deutschen viel schöner, leichter verständlich und sachlich richtiger
heißen: “Der Koran ist Gottes offenbartes Wort“. Denn “verbal“ heißt eigentlich
nur entweder “als Tätigkeitswort“ oder aber “mündlich, mit Worten“.
3. Schlimmer und unverzeihlich
ist die missverständliche Formulierung “ Gott s i c h über Propheten wiederholt geoffenbart
hat ...zuletzt gegenüber Muhammad ...“. Dass Gott “sich“ geoffenbart hat ist eine rein christliche Vorstellung,
nämlich nach christlicher Auffassung, die wir als Muslime n i c h t teilen, in
Jesus, während nach muslimischer Auffassung Gott e t w a s geoffenbart
hat, nämlich Sein Wort, den Koran. Aber dieses halten wir Muslime doch nicht für
Gott an sich, und darum ist es völlig irreführend, davon zu sprechen, Gott habe
s i c h geoffenbart!
4. Unverständlich ist mir auch,
warum auf den im Koran vorgegebenen Brauch verzichtet wird, bei der Erwähnung
des Namens des Propheten Muhammad (s) den Segenswunsch für ihn zu sprechen.
Zumindest in Form einer Fußnote kann doch darauf hinge wiesen werden. Muss der
Versuch, dem nichtmuslimischen Leser den Text angenehm zu gestalten, denn
wirklich bis zur Respektlosigkeit unseren guten muslimischen Sitten und
insbesondere gegenüber dem Propheten Muhammad (s) selbst führen?
Wir glauben an die Propheten des Einen Gottes
4.
Die Muslime
verehren sämtliche Muhammad vor ausgegangenen Propheten, darunter Moses und Jesus.
Sie glauben, dass der Koran die ursprüngliche Wahrheit, den reinen
Monotheismus, nicht nur Abrahams, sondern aller Gesandten Gottes wiederhergestellt
und bestätigt hat.
Anmerkungen
1. Wie schon oben besser “Wir
Muslime“ statt “Die Muslime...“
2. Statt “Die Muslime verehren ... Propheten“ sollte man
besser sagen: “ Muslime ehren oder “Die Muslime achten“ u.ä.,
denn das deutsche Wort “verehren“ ist auch
ein Synonym für “anbeten“ und “vergötzen“, und Verehrung im religiösen Zusammenhang
kann darum leicht als eine Form der Anbetung aufgefasst werden. So spricht man
z.B. von der “Heiligenverehrung“ in der katholischen Kirche, zu der durchaus
auch die Anrufung, also das Bittgebet gehört. Für einen Muslim wäre aber die
Anrufung oder das Bittgebet an einen anderen außer Allah die schlimmste Sünde,
nämlich der “schirk“,
die Mitgötterei.
Der Mensch muss am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen.
5.
Die Muslime
glauben, dass der Mensch, soweit er freien Willen besitzt, für sein Verhalten
allein verantwortlich ist und dafür am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen muss.
Anmerkungen
1. Wie schon oben besser “Wir
Muslime“ statt “Die Muslime...“
2. Die Formulierung “soweit er freien Willen besitzt“ ist missverständlich.
Was vertritt den nun der Islam, fragt man sich da - Willensfreiheit oder nicht?
Die scheinbar kluge Antwort löst das Problem jedenfalls nicht. Man kann sich
getrost darauf beschränken zu sagen: “dass der Mensch ... für sein Verhalten
verantwortlich ist ...“
Der Muslim und die Muslima haben
die gleiche Lebensaufgabe
6.
Der Muslim und die
Muslima sehen es als ihre Lebensaufgabe, Gott zu
erkennen, Ihm zu dienen und Seinen Geboten zu folgen. Dies dient auch der Erlangung
von Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Geschwisterlichkeit und Wohlstand.
Anmerkungen
1. Wie schon oben besser “Wir
Muslime“ statt “Der Muslim und die Muslima“. Überhaupt ist nicht ein sichtig, warum
gerade hier erstmals die muslimische Frau (Muslima)
erwähnt wird. Man könnte überall sagen “Wir Muslime, Männer und Frauen“ oder
auf die gesonderte Erwähnung der Geschlechter verzichten.
2. Die Formulierung, der Muslim
sehe es als seine Lebensaufgabe, Gott zu “erkennen“,
ist wiederum missverständlich. Zwar spricht man in Kreisen der Sufis von “ma‘rifa"
aber dieser Begriff ist in seiner Definition umstritten und die Vorstellung,
der Mensch könne Gott “erkennen“, wird von
Muslimen eigentlich nicht vertreten.
3. Sicher führt das Befolgen
der Gebote Gottes zu Seiner Zufriedenheit. Etwas unverständlich ist mir aber an
dieser Stelle der Zusammenhang mit der nachstehend erwähnten “Erlangung von Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit,
Geschwisterlichkeit ...“. Da hat sich wohl jemand an die französische
Revolution erinnert, mit ihrer Parole von Gleichheit, Freiheit und
Brüderlichkeit“ ... So einfach einander entsprechend, wie es hier erscheint,
sind aber die Ideale der abendländischen Aufklärung und der islamischen
Lebensweise nun doch nicht zu vereinbaren! Warum also (sich und auch anderen)
etwas derartiges vormachen?
4. Welchen Sinn macht der
Hinweis auf den Wohlstand an dieser Stelle? Soll er etwa die Nichtmuslime
dahingehend beruhigen, dass der Islam ihren “Wohlstand“
nicht in Frage stellt sondern im Gegenteil ihn am Ende sogar noch mehrt? (Man
lese da vielleicht noch einmal Sure 102). Ob das Befolgen der Gebote Gottes in
der Tat zu “Wohlstand“ führt - gemeint ist
hier ja wohl der materielle Wohlstand - ist auch fraglich angesichts der
Tatsache, dass unser Prophet Muhammad (s) doch eher vor dem Reichtum warnte,
sich den Armen viel mehr verbunden sah und selbst als Prophet in Armut lebte
und starb.
Die fünf Säulen des Islam
7.
Hauptpflichten der
Muslime sind die fünf Säulen des Islam: das Glaubensbekenntnis, das täglich
fünfmalige Gebet, das Fasten im Monat Ramadan, die Pflichtabgabe (zakat) und die
Pilgerfahrt nach Mekka.
Anmerkungen
1. Ähnlich wie oben statt “Hauptpflichten der Muslime“ besser “Unsere
Hauptpflichten als Muslime“
2. Nach “das
Glaubensbekenntnis“ fehlt hier genau das, worauf es ankommt, nämlich der kurze
Satz “la ilaha illa 'llah, muhammadu-r-rasulullah“
Uns Muslimen ist das wohl klar, aber dem nichtmuslimischen Leser eher nicht.
und sollte ihm darum doch mitgeteilt werden, zum besseren Verständnis auf
Deutsch etwa “ Kein Gott außer Allah, Muhammad ist Allahs Gesandter.“ Dieser
Satz ist doch die zentrale Botschaft des Islam, die zu vermitteln unsere
Aufgabe als Muslime ist. Er kommt aber an keiner Stelle in der Islamischen
Charta des ZMD vor und kann hier ganz leicht eingebracht werden.
Daher ist der Islam Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lebensweise
zugleich
8.
Der Islam ist
weder eine weltverneinende noch eine rein diesseitsbezogene Lehre, sondern ein Mittelweg zwischen
beidem. Als auf Gott ausgerichtet ist der Muslim und die Muslima
zwar theozentrisch; doch gesucht wird das Beste
beider Welten. Daher ist der Islam Glaube, Ethik, soziale Ordnung und
Lebensweise zugleich. Wo auch immer, sind Muslime dazu aufgerufen, im täglichen
Leben aktiv dem Gemeinwohl zu dienen und mit Glaubensbrüdern und -schwestern in
aller Welt solidarisch zu sein.
Anmerkung
1. Die Überschrift ist wohl aus
dem Text übernommen, macht aber so keinen Sinn. Für das Wort “Da- her" gibt es keinen Bezug. Vielmehr muss
es als Überschrift heißen: “Der Islam ist Glaube
2. Die Formulierung “Als auf Gott ausgerichtet ist der Muslim ... theozentrisch“ ist eine überflüssige Tautologie
(d.h. eine den Sachverhalt doppelt wiedergebende Formulierung), die allenfalls
zeigt, dass wir Fremdwörter gebrauchen, aber nicht unbedingt, dass wir sie auch
verstanden haben.
3. Der Islam wird hier - zu
Recht - u.a. auch als “soziale
Ordnung“ bezeichnet, d.h. also als gesellschaftliche Ordnung. Hierzu
stehen andere Punkte der “Islamischen Charta“ des ZMD im Widerspruch,
insbesondere die Punkte 10 bis 13.
Dem Islam geht es nicht um Abschaffung von Reichtum
9.
Dem Islam geht es
nicht um Schaffung von Reichtum, sondern um Beseitigung von Armut. Er schützt
das der Gemeinschaft und auch der Umwelt verpflichtete Privateigentum und fördert
unternehmerische Initiative und Verantwortung.
Anmerkungen
1. An dieser Stelle wird wohl
gesagt, dass es dem Islam “nicht um Abschaffung von Reichtum“ geht, aber es
wird verschwiegen, dass es dem Islam sehr wohl um die Abschaffung von
bestimmten Formen des Erwerbs von Reichtum geht, nämlich all denen des Betrugs,
der Bestechung, der Korruption, der Ausbeutung und vor allem des Zinswesens.
Auch wenn das unpopulär ist, besteht kein Zweifel, dass der Islam sich gerade
in dieser Hinsicht von der hiesigen Gesellschaft unterscheidet. Auch eine kurze
Erläuterung der zakat
wäre hier angebracht.
Vgl. hierzu auch oben 6.4.
Das Islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora
10.
Muslime dürfen sich
in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten
nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora,
sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne
gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge,
die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind.
Anmerkungen
1. Die unterschiedliche
Schreibung “Islamische Recht“ mit großem “I“
in der Überschrift und “islamische Recht“ mit
kleinem “i“ im Text ist nicht nachvollziehbar.
2. Der Satz “Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora,
sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten“ spiegelt nicht
nur in der Wortwahl christlich beeinflusstes Denken wieder, sondern ist auch
inhaltlich falsch. Das Wort “Diaspora“ kann
zwar allgemein als “Minderheit“ verstanden werden, ist im Deutschen aber in der
Regel für christliche Minderheiten in Gebrauch. Stattdessen wäre es besser zu
sagen: “Muslime, die in einer nichtislamischen Mehrheitsgesellschaft leben...“ o.ä.
3. Davon, dass diese aber “grundsätzlich“ verpflichtet seien, sich an “die lokale Rechtsordnung zu halten“, kann keine Rede
sein. Vielmehr gilt nach Koran und Sunna
“grundsätzlich“ die Einschränkung, dass da kein Gehorsam erfolgen kann und darf
wo das zu einem Ungehorsam gegenüber Allah führen würde. Statt “lokal“, was nichts anderes als “örtlich“ heißt,
sollte man, wenn man wirklich “örtlich“ meint, auch “örtlich“ sagen. Mir
scheint allerdings, dass es dabei um die “bestehende Rechtsordnung“ bzw. “die
Rechtsordnung der Mehrheitsgesellschaft“ handelt und nicht um die “lokale“,
also ein weiteres Beispiel dafür, dass wir wohl Fremdwörter gebrauchen, aber
nicht immer bedenken, was sie bedeuten
4. Die Konsequenzen aus der
Behauptung, dass die Muslime verpflichtet sind,
“sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten“, sind ausgesprochen
weitreichend. Nicht nur, dass damit z.B. das nichtmuslimische Erbrecht oder
auch die Einehe zwingend vorgeschrieben wären (letzteres sehe ich persönlich
aus ganz anderen Gründen zwar so, wird aber sicher von denjenigen unter uns,
die in Mehrehe leben, bestimmt nicht so betrachtet), vielmehr kann damit
begründet werden, dass die Muslime in Deutschland kaum noch Möglichkeiten haben
dürften, die rechtlichen Bedingungen zu verändern, die sie teilweise massiv
behindern, ihr Leben nach islamischen Maßgaben zu gestalten. Vgl. auch unten
unter Punkt 13..
5. Wenn diejenigen Muslime, die
von Visa- Erteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung betroffen sind,
damit “Verträge“ eingegangen sind, die sie
zur Anerkennung der “lokalen Rechtsordnung“ verpflichten, wodurch sind dann
die an deren Muslime verpflichtet, die solche “Verträge“
nicht eingegangen sind, z.B. Illegale oder solche, die von Geburt her deutsche
Staatsbürger sind?
Muslime bejahen die vom Grundgesetz garantierte
gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung
11.
Ob deutsche
Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher
die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische
Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus,
des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit. Daher
akzeptieren sie auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine
Religion zu haben. Der Koran untersagt jede Gewaltausübung und jeden Zwang in
Angelegenheiten des Glaubens.
Anmerkungen
1. Bemerkenswert ist hier die
im Vergleich zu anderen Punkten unterschiedliche Formulierung, die besonders
auf die “im Zentralrat vertretenen Muslime“
verweist und damit offen lässt, wie es sich bei der Haltung anderer Muslime zum
Grundgesetz verhält. An dieser Stelle sei zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass
die Frage der Haltung zum Grundgesetz in keiner Weise damit verknüpft ist und
auch nicht verknüpft werden darf, ob jemand “im Zentralrat vertreten“ ist.
Darüber hinaus ist es aber auch notwendig, an dieser Stelle darauf aufmerksam
zu machen, dass “die im Zentralrat vertretenen Muslime“
die absolute Minderheit aller in Deutschland lebenden Muslime darstellen.
2. Dass der Zentralrat sich auf
“Parteienpluralismus“ festlegt, ist seine
Sache. Allerdings stimmt es nicht, dass diese Vorstellung eine irgendwie
islamische begründete Vorstellung sei oder gar von den Muslimen allgemein als
verbindlich angesehen würde. Vielmehr gibt es von seiten
der Muslime teils massive Kritik an dem Parteienwesen, das, wie sich ja ebenso
in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, durchaus auch seine Schattenseiten
hat.
Wir zielen nicht auf die Herstellung eines klerikalen
“Gottesstaates“ ab
12.
Wir zielen nicht
auf die Herstellung eines klerikalen “Gottesstaates“ ab. Vielmehr begrüßen wir
das System der Bundesrepublik Deutschland, in dem Staat und Religion harmonisch
aufeinander bezogen sind.
Anmerkung
1.
Hier hat der Wolf aber gehörig Kreide gefressen! Es
ist wohl notwendig zu versuchen, den durch falsche Ausdrucksweise entstehenden
falschen Eindruck von der nach muslimischer Sicht besseren Gesellschaft zu berichtigen,
und der Ausdruck “klerikaler “Gottesstaat“
ruft natürlich Missverständnisse hervor. Aber niemand wird ernsthaft glauben,
was der Zentralrat hier vorträgt. An der Forderung des Korans danach zu
streben, dass nach Allahs Wort zu entscheiden ist (Koran 5:44-SO u.a.), kann kein Zweifel bestehen. Mit seinem “Begrüßen“ des Systems der Bundesrepublik
Deutschland wo “Staat und Religion harmonisch
aufeinander bezogen sind“ rückt der Zentralrat aber eindeutig von dieser
koranischen Maßgabe ab und stellt sich auf die Seite
derjenigen, die mit dem “harmonischen Bezug“
zwischen Staat und Religion die säkulare Gesellschaft meinen. Natürlich anerkennt
jeder Mensch, der in Deutschland lebt, die Tatsache als Realität an, dass er
hier in einer säkularen Demokratie lebt. Aber das bedeutet doch nicht, wie der
ZMD es hier behauptet, dass damit diese Tatsache und Realität als begrüßenswert
oder gar erstrebenswert anerkannt wird. Im Gegenteil ist diese Einsicht für die
Muslime ein Ansporn, sich nach besten Kräften dafür einzusetzen, diese
Gesellschaft in eine islamgemäße umzuwandeln. Oder will der ZMD wirklich
behaupten, dass ihm dieses Anlegen gleichgültig ist? Es ist gelinde gesagt,
zumindest unfair, die Menschen, mit denen man hierzulande zusammenlebt, darüber
hin wegzutäuschen, wie das hier versucht wird.
Es besteht kein Widerspruch zwischen der islamischen Lehre
und dem Kernbestand der Menschenrechte
13.
Zwischen den im
Koran verankerten, von Gott gewährten lndividualrechten
und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung besteht kein
Widerspruch. Der beabsichtigte Schutz des Individuums vor dem Missbrauch
staatlicher Gewalt wird auch von uns unterstützt. Das Islamische Recht
gebietet, Gleiches gleich zu behandeln und erlaubt, Ungleiches ungleich zu
behandeln. Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige lokale Rechtsordnung
anzuerkennen, schließt die Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechts
ein.
Anmerkung
1.
Auf die Grundproblematik wurde schon oben im
Abschnitt 10 hingewiesen. Auch hier ist die
Formulierung missverständlich, und das sicher nicht ungewollt. Tatsächlich bestehen
aber zwischen der islamischen Lehre und den “Menschenrechten“ unüberbrückbare
Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf die Frau. Darüber kann auch nicht
hinwegtäuschen, dass hier das deutsche Ehe-, Erb- und Prozess recht “anerkannt“ wird. Was bedeutet diese Aussage
praktisch? Eigentlich gar nichts. Denn praktisch ist ja das islamische Recht in
Deutschland überhaupt nicht gültig, solange es nicht eine entsprechende Vereinbarung
darüber zwischen den Muslimen und dem deutschen Staat gibt, eine Anregung
übrigens, die ich schon vor Jahren gegeben habe und an der man nach meiner
Ansicht langfristig nicht vorbei kommen wird, auch wenn die Notwendigkeit oder
gar Möglichkeit dazu bestritten wurde. Denn solche Vereinbarungen gibt es in
anderen Ländern, in denen Minderheiten leben, durchaus, auch Muslime
betreffend. Wenn aber mit der hier erteilten “Anerkennung“
des deutschen Ehe-, Erb- und Prozess- rechtes gemeint sein soll, dass die
Muslime sich auf Dauer damit zufrieden geben, dass ihre Angelegenheiten auch
zukünftig nie und nimmer nach islamischem Recht geregelt werden können, so
handelt es sich auch hier um eine Täuschung, und so etwas steht Muslimen nicht
an.
Vom jüdisch-christlich-islamischen Erbe und der Aufklärung
geprägt
14.
Die europäische
Kultur ist vom klassisch griechisch-römischen sowie jüdisch-christlich-
islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt. Sie ist ganz wesentlich von der
islamischen Philosophie und Zivilisation beeinflusst. Auch im heutigen Übergang
von der Moderne zur Postmoderne wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag zur
Bewältigung von Krisen leisten. Dazu zählen u.a. die
Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder
Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft,
die jede Art von Süchtigkeit ablehnt.
Anmerkungen
1. Hier scheint die Überschrift
falsch gewählt, denn der eigentliche Sinn des Abschnitts liegt doch wohl darin,
auf den Wunsch der Muslime hinzuweisen, dass sie an der Gestaltung der heutigen
Gesellschaft mitwirken wollen. Also hätte man hier besser als Überschrift
gewählt: “Wir Muslime wollen einen Beitrag leisten...“ oder ähnliches.
2. Ebenso ist der Jargon
überflüssig, wie er in dem Satz mit dem “heutigen
Übergang von der Moderne zur Postmoderne“ zum Ausdruck kommt. Es genügt
völlig, an dieser Stelle zu sagen: Auch heute wollen die Muslime …
2. Nicht angesprochen sind hier
die an erster Stelle zum Fundament der europäischen Kultur gehörenden
vorklassischen Elemente, von denen allein schon die Sprache beredtes Zeugnis
ablegt. Zwischen diesen und dem Islam gibt es teils krasse Unterschiede, aber
auch bemerkenswerte Parallelen, die indes leider von unserem auf die Antike
fixierten Bildungsbürger nicht wahrgenommen werden.
3. Es ist nützlich, wie hier
geschehen, darauf hinzu weisen, dass die mittelalterliche europäische Kultur
auch vom Austausch mit der mittelalterlichen muslimischen beeinflusst wurde,
aber es ist übertrieben zu sagen “ganz wesentlich“
von der “islamischen Philosophie“, und es ist
falsch zu behaupten, dass die moderne europäische Kultur im Zusammenhang mit
dem Islam gesehen werden kann. Vielmehr ist sie, was ihre vorherrschenden
Strömungen betrifft, krass antireligiös und unislamisch.
4. Wichtige Beiträge, die
Muslime für die Gesellschaft leisten können, wurden hier ausgelassen, so z.B.
das ausgewogene Verhältnis zu den materiellen Gütern bis hin zur Vorstellung
vom Steuerwesen der zakat
und von der zinslosen Wirtschaftsweise, die allemal bedeutender sind als der
hier an erster Stelle genannte “religiöse
Pluralismus“, der dadurch ja nicht in Abrede gestellt wird. Richtig ist
der Hinweis auf die Süchtigkeit, wobei man statt dem eher schwachen Ausdruck “ablehnt“ deutlicher hätte sagen sollen “die jeder
Art von Süchtigkeit entgegen tritt“, wenn man das an sich zutreffende Wort “bekämpft“ nun unbedingt vermeiden will.
Die Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in
Europa ist notwendig
15.
Der Koran fordert
den Menschen immer wieder da zu auf, von seiner Vernunft und Beobachtungsgabe
Gebrauch zu machen. In diesem Sinne ist die islamische Lehre aufklärerisch und blieb von ernsthaften Konflikten zwischen
Religion und Naturwissenschaft verschont. Im Einklang damit fordern wir ein
zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen, welches dem Hintergrund
der neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer eigenen
muslimischen Identität in Europa Rechnung trägt.
Anmerkung
1.
Dem, was hier gesagt wurde, kann man zustimmen bis
auf die Überschrift und den letzten Satz mit der “eigenen
muslimischen Identität in Europa“. Die Vorstellung von einer “eigenen muslimischen Identität in Europa“ erinnert
an die vom “Euro-Islam“, hinter dem sich der säkularisierte Muslim verbirgt.
Deshalb hätte man auf diesen ganzen Abschnitt, vor allem aber die Überschrift,
verzichten sollen. Den Muslimen ist statt dessen die Vorstellung wichtig, dass
sie, wo immer sie leben, ein Teil der weltweiten “umm"‘
der Gemeinschaft der Gläubigen, sind, und dass ihre Identität im wesentlichen
dadurch bestimmt sein sollte. Gerade im Zeitalter der Globalisierung wirkt es
fatal antiquiert, einer grundsätzlich internationalen Gemeinschaft, wie die
Muslime es sind, noch regionale Identitäten anzuempfehlen oder gar aufzwingen
zu wollen. Es ist wohl wahr, dass es zwischen Muslimen in Europa und Muslimen
andernorts merkliche kulturelle Unterschiede gibt, aber es genügt völlig, diese
als solche wahrzunehmen und anzuerkennen. Statt aber sie, wie hier angedeutet,
noch fördern zu wollen, müsste man seine Bemühungen eher darauf verwenden, das
zu bestärken, was über diese Unterschiede hinweg die Muslime miteinander
verbindet. Wir haben es also hier mit einer grundsätzlichen Richtungsentscheidung
zu tun, nämlich der Frage, wohin die Muslime in Europa sich orientieren sollen:
Wie der Zentralrat meint hin nach Europa, das nichtmuslimisch ist, oder stattdessen
hin zur umma,
die muslimisch ist.
Deutschland ist Mittelpunkt unseres Interesses und unserer
Aktivität
16.
Der Zentralrat
befasst sich hauptsächlich mit Angelegenheiten des Islam und der Muslime im deutschen
Raum, sowie mit Angelegenheiten der deutschen Gesellschaft. Ohne die
Verbindungen mit der Islamischen Welt zu vernachlässigen, soll Deutschland für
die hiesige muslimische Bevölkerung nicht nur Lebensmittelpunkt, sondern auch
Mittelpunkt ihres Interesses und ihrer Aktivität sein.
Anmerkung
Man schreibt “islamische Welt“
mit kleinem “i“.
Abbau von Vorurteilen durch Transparenz, Öffnung und Dialog
17.
Eine seiner
wichtigsten Aufgaben sieht der Zentral- rat darin, eine Vertrauensbasis zu
schaffen, die ein konstruktives Zusammenleben der Muslime mit der
Mehrheitsgesellschaft und allen anderen Minderheiten ermöglicht. Dazu gehören
der Abbau von Vorurteilen durch Aufklärung und Transparenz ebenso wie Öffnung
und Dialog.
Anmerkung
1.
Möge Allah dies ermöglichen!
Wir sind der gesamten Gesellschaft verpflichtet
18.
Der Zentralrat
fühlt sich der gesamten Gesellschaft verpflichtet und ist bemüht, in
Zusammenarbeit mit allen anderen gesellschaftlichen Gruppierungen einen
wesentlichen Beitrag zu Toleranz und Ethik, so wie zum Umwelt- und Tierschutz
zu leisten. Er verurteilt Menschenrechtsverletzungen überall in der Welt und
bietet sich hier als Partner im Kampf gegen Diskriminierung,
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus und Gewalt an.
Anmerkung
1.
Der Hinweis auf den Tierschutz dürfte in der gegenwärtigen
Lage von den nichtmuslimischen Gegnern des Schächtens
eher als Verhöhnung denn als ernst gemeint empfunden werden. Er ist hier
überflüssig.
Integration unter Bewahrung der islamischen Identität
19.
Der Zentralrat
setzt sich für die Integration der muslimischen Bevölkerung in die Gesellschaft
ein, unter Bewahrung ihrer islamischen Identität, und unterstützt alle
Bemühungen, die in Richtung Sprachförderung und Einbürgerung gehen.
Eine würdige Lebensweise mitten in der Gesellschaft
20.
Darüber hinaus
sieht der Zentralrat seine Aufgabe darin, den in Deutschland lebenden Muslimen
in Kooperation mit allen anderen islamischen Institutionen eine würdige
muslimische Lebensweise im Rahmen des Grundgesetzes und des geltenden Rechts zu
ermöglichen.
Dazu gehören u.a.:
- Einführung eines
deutschsprachigen islamischen Religionsunterrichts,
- Einrichtung von Lehrstühlen zur akademischen Ausbildung
islamischer Religionslehrer und Vorbeter (Imame),
- Genehmigung des
Baus innerstädtischer Moscheen,
- Erlaubnis des lautsprecherverstärkten Gebetsrufs,
- Respektierung islamischer
Bekleidungsvorschriften in Schulen und Behörden,
- Beteiligung von
Muslimen an den Aufsichtsgremien der Medien,
- Vollzug des
Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Schächten,
- Beschäftigung
muslimischer Militärbetreuer,
- Muslimische Betreuung
in medizinischen und sozialen Einrichtungen,
- Staatlicher
Schutz der beiden islamischen Feiertage,
- Einrichtung
muslimischer Friedhöfe und Grabfelder.
Anmerkungen
1. Bei der “Einführung eines deutschsprachigen islamischen Religionsunterrichts“
und der Forderung nach den “Lehrstühlen“
hätte man hinzufügen müssen “in Verantwortung der Muslime“.
2. Der “lautsprecherverstärkte Gebetsruf" ist m. E.
nach nicht unbedingt erforderlich. Er wird von nichtmuslimischen Mitmenschen -
meist zu recht - als störend empfunden und es gibt keinen zwingen den Anlass
unsererseits, sie derart gegen uns aufzubringen. Die Verstärkung der
menschlichen Stimme durch Lautsprecher entspricht jedenfalls nicht der sunna des
Propheten Muhammad (s). In den Überlieferungen wird nichts davon berichtet, dass
man zu seinen Lebzeiten damals bekannte Methoden der Stimmverstärkung verwendet
hätte, wie z.B. Flüstertüten o.ä. Vielmehr geht es
allein um den Gebetsruf in der Öffentlichkeit. Den allerdings sollte man uns
nicht verwehren.
3. Man hätte besser formulieren
sollen “Die allgemeine Respektierung der islamischen Bekleidungsvorschriften,
insbesondere aber auch in Schulen und Behörden“, denn unsere muslimischen
Schwestern haben mit dem Kopftuch nicht nur dort Probleme, sondern auch in
vielen anderen Lebensbereichen, sei es am Arbeitsplatz, der Lehrstelle usw.
4. Deutsche Sprache - schwere
Sprache: Grabfelder sind Felder, auf denen man gräbt (z.B. Ausgrabungen macht,
wie die Archäologen), während hier ja wohl Gräberfelder gemeint sind, wo die
Toten bestattet werden.
Parteipolitisch neutral
21.
Der Zentralrat ist
parteipolitisch neutral. Die wahlberechtigten Muslime werden für diejenigen
Kandidaten stimmen, welche sich für ihre Rechte und Ziele am stärksten
einsetzen und für den Islam das größte Verständnis zeigen.
Mitglieder und Gremien
des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD)
Dem Zentralrat
gehören 19 Dachorganisationen mit vielen hunderten Moscheegemeinden an, die ein
breites Spektrum der Muslime in Deutschland vertreten. Dazu gehören u.a. deutsche, türkische, arabische, albanische, bosnische
und persische Muslime.
Anmerkungen
1. Hier zeigt sich, wie der
Zentralrat durch geschickte Wortwahl im eigenen Interesse ein völlig falsches
Bild von sich vermittelt. Er beschreibt sich als einen Zusammenschluss von 19 “Dachorganisationen“. Wenn man aber die Mitgliederliste
des Zentralrats genauer betrachtet, stellt man fest, dass von den 19
Mitgliedern die überwiegende Mehrheit Kleinstvereine sind, dazu einige etwas
größere und als “Dachorganisation“ im Sinne
eines Zusammenschlusses mehrerer Vereine oder Verbände nur sehr wenige der
Mitglieder gewertet werden können. Auch der Hinweis auf die “vielen hunderten Moscheegemeinden“ ist eine
maßlose Übertreibung und Irreführung. Von den 19 Mitgliedern betreiben mehr als
die Hälfte gar keine oder allenfalls eine einzige Moschee. Nach meinem
zugegebenermaßen unvollständigen Einblick sind es insgesamt nicht einmal
einhundert Moscheen.
2. Ebenso ist bemerkenswert, dass
hier an erster Stelle deutsche Muslime genannt werden, während doch die
türkischen Muslime in Deutschland zweifelsfrei an erster Stelle und die
deutschen an letzter rangieren. Zwar ist der Wunsch verständlich, die Belange
des Islam, wie man sagt, von der Ausländerfrage losgelöst zu betrachten, aber
es ist doch Tatsache, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Muslime in
Deutschland noch immer Ausländer, und zwar Türken, sind. Davon sollte man bei
einer wahrheitsgemäßen Beschreibung der Umstände dann auch ausgehen.
Mögen diese Hinweise im Sinne
einer konstruktiven Kritik angenommen werden und zu einer verbesserten
Positionserklärung von Muslimen in Deutschland beitragen.
AL-ISLAM. Zeitschrift von Muslimen in
Deutschland Nr. 2/2002
Al-Islam, Zeitschrift von Muslimen in Deutschland, erscheint sechsmal jährlich. Herausgeber: Islamisches Zentrum München, Wallnerstr. 1-5, D 80939 München, Tel. 089-325061, Fax 089-325077. Inhaber und Verleger: Islamische Gemeinschaft in Deutschland eV., Wallnerstr. 1-5, D 80939 München. Verantwortlicher Redakteur: Ahmad v. Denffer, Tel. 089-32198915, Fax 089-32198916. Zustimmung zu redaktioneller Bearbeitung bzw. Kürzung von eingesandten Beiträgen gilt als erteilt. Zurücksendung von Manuskripten nur auf ausdrücklichen Wunsch und unter Beifügung eines frankierten, adressierten Umschlags. Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge stellen die Meinung des Verfassers dar, die nicht in jedem Fall mit der Meinung von Herausgeber, Verlag und Redaktion übereinstimmen muss. Nachdruck von Beiträgen nach Vereinbarung. Einzelausgabe ohne Versand EUR 2. Jahresabonnement inkl. Versand: Inland EUR 20, Ausland EUR 30. Überweisungen auf Konto Nr. 507725 (BLZ 701 603 00) Raiffeisenbank München mit deutlich lesbarer Absenderangabe und Vermerk: Al-Islam. Zustellung im Inland durch den Postzeitungsdienst und im Ausland durch die üblichen Postdienste ohne Gewähr durch Herausgeber, Verlag u. Redaktion.