Al-Serat

Islam und die Frage der Gewalt 

Seyyed Hossein Nasr

Vol. XIII, No. 2

 

Obwohl Gewalt in weiten Gebieten dieser Welt herrscht, welche von Irland bis dem Libanon und in den pazifischen Raum reichen und bei welcher viele Religionen, vom Christentum bis zum Hinduismus eine maßgebende Rolle spielen, verbindet die westliche Welt den Islam, mehr wie jede andere Religion mit dem Phänomen der Gewalt.

Die muslimische Eroberung Spaniens, die Kreuzzüge – die nicht von Muslimen begonnen wurden -, die osmanische Dominanz in Osteuropa haben für eine geschichtliche Erinnerung gesorgt, welche den Islam mit Gewalt und Macht untrennbar in Verbindung bringt. Darüber hinaus haben die Umwälzungen im Nahen Osten der letzten Jahrzehnte, besonders jene Bewegungen, welche sich des Namens des Islams bedienten und versucht haben, die Probleme der Welt der Muslime zu lösen, welche durch Gründe und Bedingungen verursacht wurden, welche außerhalb ihrer Kontrolle lagen – nur die bereits herrschende Vorstellung verstärkt, dass der Islam auf irgendeine besondere Weise mit Gewaltausübung zu tun hätte.

 

Um die Natur des Islams und die Wahrheit der Behauptung über seine Verknüpfung mit der Gewalt zu verstehen, ist es wesentlich, diese Frage sorgfältig zu analysieren und dabei in Erinnerung zu behalten, dass das Wort ISLAM selbst Frieden bedeutet, und dass die Geschichte des Islams gewiss nicht Zeugnis über mehr Gewalt ablegt, als dies der Fall mit irgend einer anderer Zivilisation ist, besonders der westlichen!

Wir werden uns aber im Weiteren mit den Prinzipien und Idealen der islamischen Religion beschäftigen und weniger mit geschichtlichen Vorkommnissen und Fakten, welche zu Krisenfällen der Geschichte gehören und mit der Entwicklung des Islams auf dem weiten Feld menschlicher Geschichtsentfaltung verknüpft sind.

Zuerst ist es nötig zu definieren, was wir mit Gewalt meinen. Es gibt mehrere lexikarische Definitionen, welche man in Betracht ziehen kann, wie „schnelle und intensive Kraft“, „rohe oder verletzende physische Kraft oder Handlung“, „ungerechte oder unberechtigte Kraftausübung im besonderen entgegen der Rechte anderer“, „rohe oder übertriebene Vehemenz“ und schließlich „Verletzung, welche aus der Entstellung einer Bedeutung oder Handlung resultiert“. Wenn diese Definitionen als gültig akzeptiert werden, dann kann die Frage gestellt werden, was der Islam mit diesen Definitionen zu tun hat?

 

Was die „Kraftausübung“ betrifft, so steht ihr der Islam nicht vollständig ablehnend gegenüber, strebt aber vielmehr danach, diese im Lichte göttlicher Rechtleitung und göttlichem Gesetz (al-sharia) zu beherrschen. Wir leben in einer Welt, in welcher Gewalt einfach überall zu finden ist; in der Natur genauso wie innerhalb der menschlichen Gesellschaften und der menschlichen Seele selbst. Das Ziel des Islams ist es, einen Ausgleich innerhalb dieses Spannungsgeflechts der verschiedenen Kräfte zu erreichen. Das islamische Rechtskonzept ist mit der Vorstellung „Ausgleich“ eng verknüpft. Das arabische Wort für Gerechtigkeit (al-'adl) ist etymologisch mit dem Wort für Ausgleich (ta'adul) eng verwandt. Alle Gewalt, welche mit dem Ziel eingesetzt wird, ein verlorenes Gleichgewicht wieder herzustellen, wird gut geheißen, ist unvermeidbar und bedeutet schließlich Recht zu verwirklichen und aufrecht zu erhalten.

Darüber hinaus bedeutete es, Gewalt in diesem Sinne nicht anzuwenden, jenen Kräften zum Opfer zu fallen, die nichts anderes vermögen, als Unausgeglichenheit und Unordnung zu vergrößern, um so in noch größerem Unrecht zu enden. Ob diese Anwendung der Gewalt nun schnell, intensiv oder sanft und mild geschieht, hängt von den Umständen ab, doch in allen Fällen darf Gewalt nur mit dem Ziel und der Absicht angewandt werden, Ausgleich und Übereinstimmung herzustellen und nicht persönlicher oder Gruppeninteressen wegen, die sich an persönlichem Vorteil oder dem einer bestimmten Gruppe orientieren und nicht am Wohlergehen aller.

 

Durch die Annahme und Umarmung der “Welt” und durch das Nichtzurückweisen “dessen was Caesars” ist, nahm der Islam die Verantwortung für eine Welt auf, in welcher Gewalt allgegenwärtig ist.

 

Auf gleicher Grundlage, beschränkte der Islam jede Art der Gewaltanwendung, trotz all der Kriege, Einfälle und Angriffe, die unter seinem Banner erfolgten. Der Islam war in der Lage, eine Atmosphäre des Friedens und der Beschaulichkeit zu schaffen, welche noch immer überall dort empfunden wird, wo die traditionelle islamische Welt überlebt. Der Friede, welcher den Gerichtshof einer Moschee beherrscht oder in einem Garten zu erleben ist, sei dies in Marrakesch oder Lahore, ist nicht Zufall, sondern das Ergebnis der Gewalt Kontrolle, mit dem Ziel eine Harmonie zu schaffen, die dem Ausgleich der Kräfte entspringt, seien diese Kräfte natürliche, soziale oder psychologische.

 

Bezogen auf die Bedeutung „rohe oder verletzende physische Kraft oder Handlung“, so steht das islamische Recht aller solcher Gewaltanwendung entgegen, ausgenommen im Fall von Krieg und der Bestrafung Krimineller, in Übereinstimmung mit der shari’a. Selbst im Krieg ist es verboten Frauen und Kindern irgendeine Verletzung zuzufügen, wie auch Zivilisten Gewalt anzutun. Nur den Kämpfern am Schlachtfeld ist mit aller Kraft entgegen zu treten und nur gegen sie kann körperliche Gewalt angewandt werden. Verletzung außerhalb dieses Kontexts zuzufügen oder dem der Bestrafung Krimineller, gemäß den Anordnungen der shari’a und der Rechtsansicht eines Richters, ist durch das islamische Gesetz völlig verboten.

 

Was Gewalt, im Sinne von „gesetzwidriger Gewaltanwendung gegen die Rechte und Gesetze anderer“ anlangt, so steht der Islam dieser strikte entgegen. Der Menschen Rechte sind durch das islamische Gesetz definiert und durch dieses Recht geschützt, welches nicht nur die Muslime, sondern auch die Befolger anderer Religionen umfasst, welche als „Volk der Schrift“ (ahl al kitab) geführt werden. Wenn es innerhalb der islamischen  Gesellschaft zu einer Verletzung dieser Rechte kommt, so nicht aufgrund islamischer Gesetzgebung, sondern wegen der Unvollkommenheit der Empfänger der göttlichen Botschaft. Kein Ort, keine Zugehörigkeit, keine Religion kann die Unvollkommenheit der Natur des „gefallenen Menschen“ vollständig neutralisieren. 

 

Was aber bemerkenswert und außergewöhnlich ist, ist nicht, dass es einiges an solcher Gewalt in muslimischen Gesellschaften gibt, sondern, dass es trotz so vieler negativer sozialer und ökonomischer Faktoren, bedingt durch das Aufkommen des Kolonialismus, Überbevölkerung, Industrialisierung, Modernisierung, welche alle in kultureller Entwurzelung mündeten, weniger Gewalt und ungerechtfertigte Gewaltausübung gegen andere in den meisten muslimischen Ländern gibt, als dies im modernen Westen der Fall ist.

 

Wenn man unter Gewalt „rohe oder übertriebene Vehemenz“ versteht, so steht der Islam auch dieser völlig entgegen. Die Sichtweise des Islams gründet auf Mäßigung und seine Sittlichkeit auf dem Prinzip der Vermeidung von Extremen und dem Einhalten der „goldenen Mitte“. Nichts ist islamischer Auffassung fremder als ungestüme Heftigkeit, geschweige denn übertriebene Kraftausübung. Selbst wenn Kraft eingesetzt wird, muss dies auf der Grundlage von Mäßigkeit und Zurückhaltung geschehen.

 

Und letztendlich, wenn mit Gewalt gemeint ist „Verletzung, welche aus der Entstellung einer Bedeutung oder Handlung resultiert“, so steht der Islam dieser eindeutig entgegen. Islam gründet auf Wahrhaftigkeit, welche ihre Bewahrung und höchste Ausdrucksform im Glaubensbekenntnis la ilaha illa 'Llah (es gibt nichts Göttliches, denn Gott) findet. Jegliche Entstellung der Wahrheit ist gegen die grundlegenden Lehren des Islams, selbst wenn dadurch niemand berührt würde. Wie sehr wäre eine Verzerrung oder Entstellung gegen die Lehren des Qur’ans und der Gepflogenheit des Propheten, sollte dadurch eine Verletzung verursacht werden.

 

Zusammenfassend muss betont werden, dass, weil der Islam die Ganzheit des Lebens umfasst und nicht unterscheidet zwischen dem Säkularen und Sakralem, sich mit Gewalt und Macht befasst, welche beide diese Welt an sich kennzeichnen. Doch begrenzt Islam die Gewalt, indem er deren Gebrauch für das Erreichen eines Ausgleichs und Eintracht kontrolliert und steuert.
Er steht ihr entgegen, insofern sie einen Angriff sowohl auf die Rechte Gottes, wie der Seiner Geschöpfe darstellt, so wie dies durch göttliches Gesetz festgelegt ist. Das Ziel des Islam ist das Erreichen von Frieden. Doch dieser Frieden kann nur durch gewaltigen Krafteinsatz (jihad) erreicht werden und der Gebrauch von Gewalt beginnt mit der Disziplinierung des eigenen Selbst und führt dazu, in einer Welt gemäß dem Spruch der shari’a (des bekannten Pfades zur absoluten Quelle der Weisheit und Friedens – Gott) zu leben. Der Islam sucht den Menschen in die Lage zu versetzen, gemäß seiner theomorphen Natur (nach Gottes Gleichnis, Gestalten und Formen, Seinem schönen „Eben“-Maß) zu leben und nicht diese Natur zu zerstören.

 

Islam duldet die Anwendung von Gewalt nur in jenem Ausmaß, um jener zentripetalen Kraft entgegen zu wirken, welche den Menschen sich von seiner inneren Wirklichkeit abwenden lässt.

Gewaltanwendung kann nur insoweit geduldet werden, als die Vergewaltigung unserer eigenen menschlichen Natur und das Chaos, welches durch den Verlust der Ausgeglichenheit entstanden ist, dadurch ungeschehen gemacht werden kann. Doch solch ein Gebrauch von Gewalt ist in Wirklichkeit keine, wie üblich verstandene Gewaltanwendung. Es ist die Anstrengung menschlichen Willens sich in die Richtung der Übereinstimmung mit göttlichem Willen und der Unterordnung des eigenen Willens unter jenen Gottes zu bemühen.

Aus dieser Unterordnung (taslim) erwächst Frieden (salam). Und durch diesen Islam, und nur durch diesen Islam kann die der menschlichen Natur eingeborene Gewalt des gefallenen Menschen und die Bestie in ihm unterworfen werden, sodass der Mensch in Frieden mit sich selbst und der Welt leben kann - weil er in Frieden mit Gott lebt.

 

Übersetzung: Muhammad HANEL, Zürich 10/2004