GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE
VÖLKER
Nachruf Göttingen/Sarajevo, Ende Oktober
2003
Europas Brücke in den Orient blieb erhalten Zum Tod von Alija Izetbegovic
ein Nachruf
von Tilman Zülch
Vor einigen Tagen habe ich am Krankenbett von Alija Izetbegovic gestanden
und ein letztes Mal mit ihm gesprochen. Wie immer konzentrierte er sich auf
seine Besucher, dankte uns für die Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker
(GfbV), insbesondere den Mitarbeitern der Sektionen und Büros in Göttingen,
Sarajevo und in Srebrenica für ihre Arbeit für die Mütterbewegung der Stadt,
für die verelendeten, vergessenen Rückkehrer.
Heute, am Tag der Beerdigung von Izetbegovic, und gestern überflogen wir die
große Zahl der Nachrufe. Da war nicht nur Matthias Rüb in der FAZ, der
"den unbestrittenen Führer der eingeschlossenen Vertriebenen, der von
aller Welt verlassenen bosnischen Muslime" ehrte und sein
"Bekenntnis zu einem europäisch geprägten, einem toleranten und offenen
Islam sowie zu einem bürgerlichen Rechtsstaat Bosnien- Herzegowina"
hervorhob.
Vier Jahre lang hat das freie Europa, haben zumindest seine Regierungen, die
Mehrheiten seiner politischen und intellektuellen Eliten dem Sterben des
bosniakischen Volkes tatenlos zugesehen. Sie haben den Genozid tabuisiert, über
die Opfer ein Waffenembargo verhängt, jahrelang mit Tätern verhandelt. Erstmals
seit 1945 wurden wir in Europa wieder Zeuge der versuchten Auslöschung einer
nichtchristlichen ethnisch-religiösen Gemeinschaft. 200 000 bosnische
Zivilisten kamen ums Leben, unter ihnen mindestens 90 % Muslime. Allein in
Srebrenica vernichteten serbische Einsatzgruppen im Jahr 1995 8.000
"Männer" über 13 Jahren. Die Stadt Sarajevo beklagt 11.500 Opfer,
darunter 1.500 Kinder. Allein das Totenbuch der kleinen westbosnischen Stadt Prijedor
enthält bereits 3227 Namen seiner ermordeten Bürger.
Doch statt Klagen über das Versagen Europas, das vielen Bosniern das Leben
kostete, lesen und hören wir in zahlreichen Nachrufen über die islamische
Intervention, über islamischen Fundamentalismus und hunderte Moscheen, die von Saudiarabien
aufgebaut wurden. Dabei war die Solidarität islamischer Regierungen mit
Bosnien kläglich genug.
Doch Srebrenica gilt als schlimmstes europäisches Massaker seit Holocaust
und Gulag. In Den Haag muss sich Slobodan Milosevic vor dem Internationalen
Kriegsverbrechertribunal verantworten. Andere Täter wurden wegen Genozid und
Angriffskrieg verurteilt. Trotzdem scheut die westliche Gemeinschaft, scheuen
so viele westliche Kommentatoren noch immer das Wort Völkermord - trotz der
eindeutigen Urteile des Tribunals, trotz der endlosen Reihe der geöffneten
Massengräber der zehntausenden exhumierten Opfer.
Auf Seiten der Täter fanden wir nicht nur europäische Regierungen in Paris
und London, sondern fast geschlossen die gesamte Führung der serbisch-orthodoxen
Kirche neben islamischen Diktatoren wie Saddam Hussein und Muammar El Kahdafi.
Die Reichspogromnacht, die Zerstörung der Synagogen ist in unserem
Bewusstsein zu Recht ständig präsent, nicht aber die völlige Vernichtung
sämtlicher 1.183 Moscheen im serbisch besetzten Bosnien, von ungezählten muslimischen
Friedhöfen und Kulturdenkmälern, nicht die Konzentrationslager, in denen wohl mehrere
zehntausende Menschen ermordet wurden, nicht die Vergewaltigungslager, die über
Monate betrieben wurden. Sie sind ebenso vergessen wie deren traumatisierte Häftlinge
oder die Mütter von Srebrenica.
Dass die Aggression
Serbien-Montenegros, aber auch fast ein ganzes Jahr lang die Aggression
Kroatiens scheiterte, dass dem Völkermord Einhalt geboten, dass
die Vertreibung der Bosniaken nicht vollendet wurde, ist nicht Europas Verdienst.
Geführt von Alija Izetbegovic, haben die eingeschlossenen und von der
westlichen Welt verlassenen Einwohner Sarajevos, hat die bosniakische Bevölkerung
in vielen Regionen und Enklaven so lange durchgehalten, bis Hilfe von der
Regierung Clinton kam. Die Vereinigten Staaten haben den Krieg 1995 beendet.
Doch das Unrecht dauert an, solange hunderttausende Vertriebene nicht
zurückkehren dürfen und noch immer einige der Haupttäter auf freiem Fuß sind.
Izetbegovic war weder Militär noch professioneller Politiker. Aber er hat das
Wunder vollbracht: Bosnien-Herzegowina und mit ihm auch seine tolerante
muslimische Tradition und Kultur blieben erhalten als Europas Brücke in die
islamische Welt. So war es sicher kein Zufall, dass nur weniger Wochen vor dem
Tod von Izetbegovic die weltberühmte Brücke von Mostar wieder aufgebaut worden
ist.
Süleyman
YILDIRIM
Near East
Desk
Gesellschaft fuer bedrohte Voelker
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