I.N.G.
                                                                         Wien, am 17 9. 01
 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Zuerst möchten wir uns für Ihre Stellungnahme zu den jüngsten schrecklichen
Ereignissen in den USA und besonders für Ihr kompetentes Interview im
Fernsehen herzlich bedanken. Wir hoffen wider jede Hoffnung, dass die
amerikanische Regierung nicht den Weg der Vergeltung und des Kriegs
einschlägt, sondern erkennt, dass das Übel des Terrorismus
nicht auf diese Weise beseitigt werden kann, sondern
nur dadurch, dass alle Verantwortlichen ernsthaft beginnen, endlich die
Wurzeln des Übels zu bekämpfen, Selbstbesinnung zu üben und die 'twintower
of justice and peace' zu errichten.
Wir glauben, dass auch kleine Staaten wie Österreich und die 'kleinen Leute'
mit moralischem Engagement und politischem Bewusstsein
ihre Stimme erheben, ihre staatsbürgerliche  Verantwortung wahrnehmen und damit
zum 'David für den Goliath' werden sollen.

Deshalb haben wir angesichts der sich bedrohlich verschärfenden Lage
an den Herrn Bundeskanzler einen 'offenen Brief' geschrieben
und ihn gebeten, im dargelegten Sinn wirksam zu werden.

Wir ersuchen auch Sie, Ihre ganze Autorität für ein mutiges Handeln
der Bundesregierung einzusetzen und verbleiben

mit den besten Wünschen

                                                      Mag. Josef M. Lanzl
                                    Islamisches Bildungs- und Kulturzentrum - Österreich
 
 
 

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Islamisches Bildungs- und Kulturzentrum – Österreich
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Wien, am 17. 9. 01

Offener Brief

An
 Herrn Bundeskanzler
Dr. Wolfgang Schüssel
Ballhausplatz 2
1010 Wien

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Angesichts der entsetzlichen, menschenverachtenden Massenmorde in den USA, die wir gemeinsam mit allen human gesinnten Mitbürgern verurteilen, erlauben wir uns als österreichische Muslime, besorgt über die gesellschaftlichen und politischen Folgen dieser Ereignisse, Ihnen kurz einige Ansichten darzulegen, und hoffen, auf Verständ-nis zu stoßen und so zur Vermeidung von noch größeren Katastrophen für die Menschheit beizutragen.

Zunächst möchten wir uns für die bisherige maßvolle Haltung der Bundesregierung in dieser schweren internationalen Lage bedanken, bitten Sie aber in der gebotenen Höf-lichkeit mit allem Nachdruck um Folgendes:

1. Entziehen Sie der US-Regierung in ihrer Absicht, einen Vergeltungsschlag  gegen unschuldige Menschen durchzuführen, jegliche österreichische Unterstützung; militä-risch, logistisch und ideell, bevor es zu spät ist! Die Wirkung einer solchen Haltung der Bundesregierung eines Landes wie Österreich, das zwar klein, aber immer noch neutral ist und in der Weltöffentlichkeit ein großes moralisches Gewicht hat, soll nicht unterschätzt werden. Lassen Sie keinen Überflug von NATO-Flugzeugen über öster-reichisches Hoheitsgebiet zu!

Die Vernunft gebietet es, niemandem zu folgen, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat und durch die Hemmungslosigkeit seines Hegemonieanspruches einen Krieg und damit eine viel, viel größere Katastrophe herbeiführen kann als der Anschlag in Ame-rika.

Es ist nicht ratsam, den Ermittlungen von amerikanischen Geheimdiensten zu glauben, die vorgeben, den Fall innerhalb von Stunden aufzuklären, während sie offenbar nicht in der Lage waren,  jahrelange Vorbereitungen zu verhindern. Nehmen Sie nicht einen Platz in der Geschichte als österreichischer Kanzler ein, der die Gelegenheit hatte, zur Vermeidung eines umfassenden Kriegs beizutragen, es aber nicht getan hat. Wirken Sie auf die benachbarten europäischen Regierungen ein, eine ähnlich verantwortungs-bewusste Haltung gegenüber der Zukunft Europas und der Menschheit in einer äußerst brisanten weltpolitischen Lage einzunehmen.

Versichern Sie jedoch dem amerikanischen Volk, dass Österreich vorbehaltlos mitwir-ken wird, die Schuldigen zu finden und vor ein strenges Gericht zu stellen, nicht aber zügellose Aggression gegen Unschuldige auszuüben.

2. Treten Sie gegenüber der US-Regierung nach Kräften dagegen auf, den geplanten ‚Vergeltungsschlag’ auszuführen! Nutzen Sie alle erdenklichen politischen, diplomati-schen, demokratischen und persönlichen Mittel. Sie haben sicherlich die Unterstützung der Völker aller Länder, besonders jener der sog. Dritten Welt, allen voran der fried-liebenden islamischen Länder.
Insbesondere das österreichische Volk, demgegenüber Sie verantwortlich sind, wird es ihnen danken, wenn sie die Menschen vor einem Krieg schützen. Die Neutralität, die unserem Land fast 50 Jahre geholfen hat, in keinen Krieg hineingezogen zu werden, verpflichtet uns gerade in der jetzigen Situation dazu, die Gunst der Stunde im Interes-se des eigenen Volkes und des Friedens zu nützen und den Mächtigen, wenn sie Un-recht tun und verantwortungslos handeln, die Gefolgschaft zu verweigern.

Die Regierung hat den Bürgern der USA bereits versichert, dass wir alle ihren Schmerz teilen. Nun muss aber auch gesagt werden,  dass ein US-Rachefeldzug, der unschuldige Menschen tötet, die USA zu Erfüllungsgehilfen der Drahtzieher der Ter-roristen macht, sie auf eine Ebene mit ihnen stellt oder gar darunter herabstuft und von der Welt als Staatsterror angesehen werden wird. Die Botschaft der unschuldigen Op-fer in den USA ist es gerade weitere unschuldige Opfer zu vermeiden, statt das Ge-schäft der Terroristen zu erledigen.
Schon jetzt sind Millionen Unschuldiger in Afghanistan, dieses seit Jahrzehnten gefol-terten Landes, auf der Flucht. Was soll diesen armen Menschen noch angetan werden, nachdem die USA aus eigensüchtigen Motiven mitgeholfen haben, die jetzige Regie-rung an die Macht zu bringen?

Erinnern Sie die USA an ihren eigenen Wahlspruch 'Law and Order', der dort in Zeiten entstanden ist, als Lynchmorde die Oberhand gewonnen hatten, und jetzt angewendet werden muss, statt völkerrechtlich unerlaubte Militäraktionen mit unabsehbaren Fol-gen vom Zaun zu brechen.

3. Verantwortliche Staatsmänner Europas wie Sie sollen den USA eindringlich vor-schlagen, eine grundlegend neue außenpolitische Doktrin auch im eigenen Interesse zu entwerfen: Eine, die die Selbstbestimmung der Völker der Welt anerkennt, statt auf Hegemonie abzuzielen, eine, die von Hochachtung voreinander ausgeht, nicht von Hochmut und Arroganz, welche das Völkerrecht und die Menschenrechte für die eige-nen Interessen instrumentalisiert und so eine Politik der 'doppelten Standards' etabliert, eine Doktrin, welche sich vor allem nicht der hemmungslosen Globalisierung ver-schreibt, sondern ein globales Gleichgewicht herstellen will, das langfristig Frieden und Wohlstand für alle und nicht nur für einige wenige sicherstellt. Andernfalls wer-den die USA (und ein ihnen gefügiges Europa), die bereits jede Achtung bei den be-nachteiligten Massen der Welt verloren haben,  unweigerlich einen äußerst erbitterten globalen Widerstand, eine Intifada der Unterdrückten der Welt hervorrufen, welcher nicht mit Terrorismus verwechselt werden darf. Daher müssen endlich die 'twintowers of justice and peace' aufgebaut werden.

Jeder weiß, dies ist ein Prozess und kein Blitzschlag. Doch man darf darauf hoffen, dass viele US-Bürger, die durch die Anschläge tief nachdenklich geworden sind, sich fragen, was sie bzw. ihre demokratische Regierung falsch gemacht haben könnten und die nun nach einem Ausweg suchen. Und viele Amerikaner wären als christliches Volk sicher gern bereit, ihren Nächsten zu helfen, nicht zuletzt den unterdrückten Völ-kern dieser Welt, die unter der bisherigen US-Außenpolitik schwer gelitten haben, weil die gleiche Politik das schwere Unrecht anderer bedingungslos gestützt hat. Denn auch die christlichen Amerikaner wissen, dass Gott nicht auf der Seite der arroganten Machthaber, sondern der Entrechteten steht, 'die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden', auf der Seite 'der Friedfertigen,  denn sie werden Kinder Gottes heißen' und auf der Seite der 'Ohnmächtigen, denn sie wer-den das Land erben'. Wenn sich Amerika als 'god’s own country' betrachtet, dann er-wächst ihm daraus eine schwere Verpflichtung, die es bisher häufig missachtet hat und jetzt gänzlich zu verspielen droht.

Herr Bundeskanzler, Sie regieren ein vernunftbegabtes Volk! Und Sie haben ein fried-liebendes, freundliches Volk hinter sich.
Es wäre genau jetzt an der Zeit, dem US-amerikanischen Freund und wichtigsten Un-terzeichner unseres Staatsvertrags auch als kleines Land selbstbewusst gegen-überzutreten, ihn auf bedenkliche Fehler hinzuweisen und dadurch drohenden noch größeren Schaden von ihm und uns allen abzuwenden. Ist das ist nicht die Pflicht eines Freundes?

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Das berühmte Dichterwort von Österreich als 'klei-ner Welt, in der die große ihre Probe hält' bekommt eine geradezu hochaktuelle Bedeu-tung. Viele Österreicher haben die Lektion der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs gelernt und so ist unser 'Konfliktmanagement' nach innen und außen nicht selten als vorbildhaft gepriesen worden, auch wenn uns die Welt in der letzten Zeit keineswegs immer fair behandelt hat. Doch genau jenen Kräften, die jetzt mit gefährli-cheren Folgen als je auf Hass, Konfrontation und Krieg setzen, können Sie als Reprä-sentant Ihres angesehenen Volkes mit jener gediegenen Bestimmtheit entgegentreten, die Sie bis jetzt erfolgreich angewandt haben.

Die Geschichte und viele Menschen inner- und außerhalb unseres Landes werden es Ihnen danken.

In der Hoffnung, dass Ihnen Gott in dieser schwierigen Zeit beistehen möge, das Rich-tige zu tun, mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen

                              Mag. Josef Lanzl
    Islamisches Bildungs- und Kulturzentrum - Österreich