Islamische Zeitung
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"Kein Zwang im Kapitalismus?" - Über eine inhaltliche Debatte mit dem Islam
Von Herausgeber Abu Bakr Rieger

Nach der Stigmatisierung der deutschen Linken hat die Nation ein neues
Feindbild: den Islam.
Der Terrorist Bin Ladin hat als geistiger Urheber der Attentate in den USA
Millionen von Muslimen aus ihrem zumeist einfachen Erwerbsleben
aufgeschreckt. Wenngleich die absolute Mehrheit der Muslime sich schnell
mit Abscheu von dem Treiben des saudischen Millionärs distanziert hat, sind
die Muslime dennoch schnell unter Generalverdacht geraten. Ein Verdacht,
dem einige Muslime mit nicht nachvollziehbaren Verschwörungstheorien über
die Hintergründe des Attentats in New York leider noch Antrieb gaben. Es
ist natürlich auch naiv, wenn Muslime behaupten, Bin Ladin hätte mit dem
Islam gar nichts zu tun. De facto ist der Terrorist ein Monster, das der
Islam, die Erdölindustrie, Pakistan und Saudi Arabien erschaffen hatten und
nun außer Kontrolle geraten ist.

Zu befürchten ist nun, dass es für alle in Deutschland lebenden Bürger nun
heißt, von vielen liebgewonnenen Freiheiten Abschied zu nehmen. Die
verständliche Sorge der Menschen und der Politik um die innere Sicherheit
hat leider zwei Seiten. Wie zuvor der RAF-Terrorismus auf nationaler
Ebene, führt nun der islamische Terrorismus auf globaler Ebene zum steten
Ausbau der staatlichen und polizeilichen Überwachungsstrukturen.
Terrorismus hat schon immer den Staat stärker gemacht, doch nun werden wohl
die Gefahr und die Aktionen des internationalen, islamischen Terrorismus
sogar sprunghaft die Idee des Weltsstaats fördern und mithervorbringen.
Nicht nur Muslime fragen sich: Wird dieser Weltstaat eine von der UN
geführte Einrichtung oder aber ein schlichtes Gebäude eines vom
Kapitalismus bestimmten US-Empire?

Die Position des PDS-Politikers Gregor Gysis nach den Anschlägen in New
York ist den Muslimen durchaus sympathisch: Zum Einen die radikale
Ablehnung des Terrorismus, zum Anderen die Verurteilung einer Kriegslogik
unter Führung Amerikas, das droht, langfristig als Opfer, Richter und
Vollstrecker in einer Person aufzutreten. Die PDS hat sich insoweit eben
nicht von der dialektischen und kommunikationsfeindlichen These des US-
Präsident Bush "wer nicht für uns ist, ist gegen uns" beeindrucken lassen.
Sie hat auch verhindert, dass man bezüglich der militärischen Option der
Bundesrepublik "DDR-Verhältnisse" mit den berühmten Abstimmungsergebnissen
einer gesellschaftlichen Zustimmung über 90% vorgefunden hätte.

Was ist der Islam? Zunächst muss man feststellen, daß der Islam mehr ist,
als man im einstigen Kernland der Araber erkennen kann. Nach der Invasion
der Ismen im arabischen Raum, nach Kapitalismus, Sozialismus und
Imperialismus ist den Araber, vor allem nach der Schwächung des arabischen
Sozialismus, ein wenig substantiierter Anti-Amerikanismus und Anti-
Semitismus und arabischer Nationalismus geblieben. Ohne das Feindbild
Israel, so sagte neulich ein ägyptischer Journalist, hätten wohl noch mehr
junge Araber jeden Bezug zum Islam längst verloren. Die verzweifelte Jugend
im Gazastreifen hat ihren Islam deshalb vor allem in einer stark
ideologisierten, anti-semitischen Version erlernt. Im Palästina der
heutigen Tage kämpfen insbesondere Araber und Juden, beide als Volksgruppen
ja Semiten, weniger für Islam oder Judentum, sondern für zwei nationale,
weltliche Staaten. Man muss daher zum tieferen Verständnis des Islam
erkennen, dass es auch jenseits des Nahostkonflikts viele Millionen Muslime
in Asien und Europa gibt.

Aber es gibt vielleicht auch aus anderem Grund eine mögliche Nähe der in
Europa lebenden Muslime zu einigen politischen Positionen des
demokratischen Sozialismus. Immer mehr Muslime verstehen, dass es nicht das
demokratische Europa oder das demokratische Amerika ist, das sie als
Bedrohung empfinden. Eher schon sind es die Interessen der globalen
Finanzindustrie oder die Geopolitik der Energieriesen. Die Muslime leben ja
in ihrer Mehrheit auf den größten Energiereserven der Welt. Huntingtons
These vom Kampf der Kulturen ist falsch, denn - so glauben auch muslimische
Intellektuelle, die Zukunft wird eher von einer globalen Auseinandersetzung
zwischen Arm und Reich bestimmt werden. Selbst der unselige Bin Ladin - der
selbst ja eher den Reichen zuzurechnen ist -  hat ja durchaus einen Bezug
zur US-Kultur: Seine Verehrung des und Abhängigkeit vom amerikanischem
Dollar. Wie auch immer: Die Massen der Verarmten und Verschuldeten werden
sich als "Globalisierungsgegner" wohl durchaus überkulturell und
überkonfessionell zusammenfinden. Viele Millionen dieser Verlierer der
Globalisierung, vor allem in Asien, sind Muslime. Man muss unbedingt
verhindern, dass sich diese Menschen Bin Ladin zum Helden wählen.

Wer immer sich für die ökonomische künftige Ordnung interessiert, wird sich
auch um den Islam kümmern müsssen. Nicht nur weil der Islam "die Religion
der Armen" ist, sondern weil der Qur'an und das islamische Recht viele
ökonomische Regeln aufstellen. Der Prophet, von Beruf Händler, hat in
Medinah, der heiligen Stadt, eine Moschee und einen freien Markt gegründet.

Im Kern der islamisch-ökonomischen Lehre ist hier natürlich das berühmte
Verbot des Wuchers zu nennen, einem gesellschaftlichen Kernproblem, das
schon Aristoteles in seiner Politea erkannt hat. Viele europäische Muslime
sehen tatsächlich in dem Verbot der Zinserhebung, dem kategorischen
Imperativ der Muslime, den Schlüssel, den "entfesselten Kapitalismus"
einzudämmen. Kurzum - der Islam hat eine konkrete, freiheitliche und
rationale Auffassung über die ökonomische Ordnung. Gerade hier hat der
Islam auch Vorstellungen und Konzepte - sogar Innovationen - die für die
westliche Intelligenz  durchaus faszinierend sein könnten. Es ist kein
Zufall, dass gerade dieser Aspekt  islamischer Lehre dem vielbesungenen
"radikalen Islam" völlig fremd ist. Die nationale Idee eines
"Gottesstaates" - geprägt von staatsrechtlichen Vorstellungen der
Nationalstaatszeit - ist von seinem visionären Gehalt her für viele
"radikale" Muslime eine Art Schweiz mit strikter Sexualmoral, Alkoholverbot
und einer Börse ohne Aktien der Konsumindustrie. Inhaltlich wäre ein
solcher "islamistischer und kapitalistischer" Staat ein Paradox, da dem
Islam die westliche staatsrechtliche Vorstellung von Nation, als die
Einheit von Territorium und Rasse, aber auch eine dominant kapitalistische
Staatsvorstellung geschichtlich völlig fremd sind.

Es ist evident, dass die Frage über Krieg und Frieden auch an den
Aktienmärkten entschieden wird. Heutige Invasionen des Westens geschehen
nicht durch Armeen oder Kriege. Es ist vielmehr eine schleichende
Kolonialisierung der Welt mit dem Mittel der Währungspolitik. Es darf auch
angemerkt werden, dass der "aufgeklärte Westen" ein durchaus irrationales
und magisches Finanzsystem hervorgebracht hat. Es gehört zu den tieferen
Widersprüchen dieser Zeit, dass die Aktienmärkte in sich ein auf "Glauben"
gegründetes System darstellen. Und wem ist im Osten Deutschlands nicht
aufgefallen, dass die "heiligen Hallen der Banken" eine durchaus sakrale
Funktion angenommen haben?

Es wird heute oft behauptet, der Islam strebe die Weltherrschaft an oder es
gebe "Zwang im Glauben". Das ist insoweit paradox, als dass Muslime von
einer "Weltherrschaft" ja offensichtlich weit entfernt sind. Die Mehrheit
der Regimes in der islamischen Welt, von Algerien über Saudi Arabien bis
Usbekistan, sind fremdbestimmte, autoritäre und vom Westen eingesetzte
Machtgebilde. Es muss daher auch mal in einer freien Gesellschaft gefragt
werden können, ob es eigentlich einen "Zwang im Kapitalismus" gibt. Ist der
Kapitalismus per se tolerant und friedliebend? Wollen der Kapitalismus und
seine Börsen etwa nicht die Weltherrschaft? Ist es friedlich oder
gewalttätig, wenn Millionen Asiaten durch die Machenschaften von
Börsenspekulanten ihre Lebensgrundlagen verlieren? Werden moderne
Kapitalstrukturen, die oft mächtiger als Nationen sind, noch demokratisch
kontrolliert? Lassen wir uns nicht blenden - es ist auch die Dialektik
gegen den Islam, die eine derartige Selbsterkennung verhindert.

Die Muslime in Deutschland müssen diese gesellschaftliche Zukunftsdebatte
über die globale ökonomische Ordnung - wenn Sie es denn dürfen - stärker
mitgestalten. Die einfache Teilnahme an dieser Debatte ist für die
europäischen Muslime wichtiger und bedeutender als jede aktuelle
islamistische und politische Betätigung. Ein Islamismus, der das
ökonomische Problem nicht erkennt, ist in der Tat von "vorgestern". Die
Muslime müssen natürlich künftig auch klarer machen, was ihr positives und
konstruktives Angebot an diese Sozialgesellschaft ist. Muslime sind gerade
wegen ihrer sozialen Kompetenz, ihrer Weltoffenheit und durch ihr
ganzheitliches Wissen einer umfassenden Offenbarung auch eine Bereicherung
der deutschen Gesellschaft. Insbesondere die Parteien, die eine offene und
diskutierende Gesellschaft wollen, sind aufgefordert, sich auch um die
Muslime zu bemühen. Es bleibt dann zu hoffen, dass das Attentat in New York
diese offene Debatte über den Islam nicht verhindert, sondern ermöglicht.
Es ist sicher, dass die Terroristen und Attentäter eine solche kreative
Debatte Europas mit dem europäischen Islam nicht gewollt haben.