Fachvertreter der Islam- und Orientwissenschaften von Universitäten und
anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland

 Stellungnahme zu den aktuellen Ereignissen in den USA

 http://www.uni-muenster.de/ArabistikIslam/stellungnahme.htm
 
 

Die folgende Stellungnahme wurde bereits am vergangenen Freitag im Namen von
Islam- und Orientwissenschaftlern aus NRW über die Pressereferate der
Universitäten Köln und Münster verbreitet. Inzwischen haben sich weitere 45
Islam- und Orientwissenschaftler aus ganz Deutschland (sowie ein Kollege aus
der Schweiz) angeschlossen. Obwohl nach der weithin emotionalen
Berichterstattung der ersten Tage inzwischen eine gewisse Differenzierung
der öffentlichen Debatte festzustellen ist und von verschiedener Seite zu
Besonnenheit aufgerufen wurde, glauben wir dennoch, daß die Stellungnahme
ihre Aktualität nicht eingebüßt hat.
 
 

Stellungnahme:
 
 

Die am letzten Dienstag in Amerika verübten Attentate, welche unschuldige
Menschen trafen, werden in der ganzen Welt zurecht als abscheulich und
menschenverachtend verurteilt. Den Angehörigen der Opfer und dem
amerikanischen Volk sprechen wir unser tiefes Beileid aus.
 
 

Zugleich fühlen wir uns angesichts der bisherigen Berichterstattung über die
Attentate aufgerufen, folgende Stellungnahme abzugeben:
 
 

1. Nach unserer Einschätzung ist die bisherige Berichterstattung in den
Medien teilweise unzulänglich und in Teilen irreführend. Unzulänglich
deshalb, weil sowohl die Hintergründe der Attentate als auch die Motive der
Täter zu wenig Beachtung finden. Besonders die gegenwärtige politische
Situation im Vorderen Orient (Stichwort: Palästinakonflikt) sowie die Rolle
der USA in der Nahostpolitik der letzten 50 Jahre werden in den Berichten
vernachlässigt. Irreführend ist die Berichterstattung insofern, als offenbar
Einzelereignisse (Stichwort: jubelnde Menschen im Westjordanland) als
beispielhaft für die Reaktion einer ganzen Region vorgeführt werden. Die von
einigen Medien suggerierte Gleichung "Muslim = Fundamentalist = Terrorist"
ist absurd und dem Zusammenleben verschiedener Nationen und Religionen
abträglich. Auch der oft hohe Emotionalisierungsgrad bei der
Berichterstattung ist wenig sachdienlich.
 
 

2. Wir möchten darauf hinweisen, daß es sich nach unserer Beurteilung bei
diesen terroristischen Verbrechen nicht um Taten vor dem Hintergrund eines
religiösen oder kulturellen Konfliktes handelt. Tatsächlich dreht sich der
Konflikt um die Verteilung von Machtpositionen im Nahen Osten, wobei auf
Seiten der Terroristen islamische Glaubenselemente und religiöse Begriffe
als willkommene Stützen der eigenen ideologischen Position dienen. Das
Feindbild radikaler Muslime richtet sich weniger auf die westliche
Zivilisation an sich, als vielmehr auf die USA als Supermacht, deren Einfluß
auf die politischen Verhältnisse in dieser Region als übermächtig und
unerträglich empfunden wird.
 
 

3. Die Tatsache, daß die Rolle der USA im Nahen Osten mehr und mehr
konfliktträchtig geworden ist,

besonders nach den jüngsten Ereignissen, sollte die europäischen Staaten
dazu veranlassen, sich in Zukunft deutlich mehr als bisher und langfristig
in der Region politisch zu engagieren. Nur politische Veränderungen werden
die Voraussetzungen dafür schaffen können, daß dem Terrorismus der Nährboden
entzogen wird. Bevor man aufgrund der aktuellen Ereignisse den Menschen in
den islamischen Ländern ihre Würde abspricht und die Taten einiger
Extremisten als generellen Angriff auf Freiheit und westliche Zivilisation
bezeichnet, sollte sich die westliche Nahostpolitik verstärkt darum bemühen,
in den islamischen Ländern die Bedingungen für ein würdevolles Dasein in
Wohlstand und Freiheit zu schaffen.
 
 

Prof. Dr. P. Bachmann (Göttingen), Prof. Dr. Th. Bauer (Münster), Dr. L.
Behzadi (Göttingen), Dr. L. Berger (Tübingen), Prof. Dr. H. H. Biesterfeldt
(Bochum), Prof. Dr. H. Daiber (Frankfurt/M., Kuala Lumpur), Prof. Dr. W.
Diem (Köln), Dr. des. S. Dorpmüller-Wosab (Münster), Prof. Dr. H.-G. Ebert
(Leipzig), Prof. Dr. B. Finster (Bamberg), Dr. des. P. Franke (Halle/S.),
Dr. K. Ghahari (Köln), Prof. Dr. H. Grotzfeld (Münster), Dr. S. Grotzfeld
(Münster), Dr. St. Guth (Bern), Dr. L. Hanisch (Halle/S.), Prof. Dr. P.
Heine (Berlin), A. Heinemann, M.A. (Halle/S.), Dr. des. Th. Herzog
(Halle/S.), Dipl.-Vw. V. Hubert-Köster (Bonn/Münster), G. Kock, M.A.
(Münster), Dr. F. Kogelmann (Hamburg), S. Kotb, M.A. (Wiesbaden), Prof. Dr.
S. Leder (Halle/S.), PD Dr. R. Lohlker (Göttingen), Prof. Dr. J. Malik
(Erfurt), A. Masarwa, M.A. (Münster), Prof. Dr. G. Meyer (Mainz), Dr. K.
Müller (München), PD Dr. F.-Chr. Muth (Mainz), A. Pflitsch, M.A. (Berlin),
Prof. Dr. P. Pink (Köln), PD Dr. A. Pistor-Hatam (Kiel), Dr. C. Ott
(Erlangen), Dr. des. A. Osigus (Münster), Dr. W. Raven (Frankfurt/M.), Prof.
Dr. S. Reichmuth (Bochum), Prof. Dr. G. Rotter (Hamburg), Dr. E. Rudolph
(Erfurt), PD Dr. I. Schneider (Halle/S.), Th. Schneiders (Münster), Dr. M.
Schöller (Köln), Prof. Dr. E. Schulz (Leipzig), Dr. F. Schwarz (Bochum),
Prof. Dr. T. Seidensticker (Jena), Dr. M. Springberg-Hinsen (Münster), Dr.
U. Stehli-Werbeck (Münster), W. Stork, M.A. (Köln), Dr. H. Suermann (Bonn),
K. Sündermann, M.A. (Köln), Prof. Dr. R. Voigt (Berlin), PD Dr. St. Weninger
(München), Dr. W. Werbeck (Münster), B. Wiesmüller, M.A. (Köln), Prof. Dr.
S. Wild (Bonn), Dr. R. Würsch (Bochum)
 
 
 
 

Die Friedenswerkstatt Linz lädt angesichts der entsetzlichen
Flugzeug-Attentate und der dramatisch steigenden Kriegsgefahr ein zu
einem

TREFFEN ZUR VORBEREITUNG VON ANTI-KRIEGSAKTIVITÄTEN

Donnerstag, 27. September 2001
20 Uhr
Büro der Friedenswerkstatt, Waltherstraße 15, 4020 Linz
Tel. 0732/771094
e-mail: friwe@servus.at
Internet: www.friwe.at (mit neuen Infos zur derzeitigen Situation).

Die nächsten Ausgabe unserer Zeitung "guernica" wird eine Schwerpunkt zu
dieser Thematik enthalten. Auf Wunsch schicken wir gerne ein
Probeexemplar (gratis).

Beiliegend eine erste Stellungnahme der Friedenswerkstatt Linz zu den
Flugzeug-Anschlägen in New York und Washington (beschlossen am 13.
September)

Vor dem Abgrund

Die entsetzlichen Flugzeug-Anschläge bzw. Mega-Attentate (keines dieser
Worte trifft die riesige Tragödie richtig) auf das World Trade Center
und das Pentagon am 11. September 2001 sind aufs Schärfste zu
verurteilen. Unsere ganze Solidarität und unser Mitgefühl gilt den
Ermordeten, den Verletzten, ihren Angehörigen und FreundInnen. Diese
terroristischen Anschläge sind menschenverachtend. Genauso
menschenverachtend wie der Terrorkrieg der USA und vieler EU-Staaten
gegen die irakische Bevölkerung 1991 und gegen die jugoslawische
Bevölkerung 1999. Im Golfkrieg wurden 200.000 Iraker aus der Luft
abgeschlachtet, humanitäre Organisationen schätzen, dass infolge der
vollkommenen Zerstörung der Infrastruktur und des folgenden UN-Embargos
mittlerweile eine Million Iraker getötet wurden. Der Friedensforscher
Robert Jungk hatte damals davor gewarnt, dass durch den Golfkrieg der
"3. Weltkrieg zwischen Nord und Süd" ausgelöst wurde. Die Masse der
Bevölkerung in den USA und Europa blieb teilnahmslos. Die Machteliten
suggerierten lange Zeit erfolgreich, dass man den Krieg an die
Peripherie exportieren kann, ohne eigene Opfer beklagen zu müssen. Diese
Illusion ist nun zerbrochen. Der Krieg kehrt in die Zentren zurück.
Weder präzisionsgesteuerte Marschflugkörper noch Raketenabwehr im All
können das verhindern.

Wir stehen vor einer dramatischen Entscheidungssituation: entweder jetzt
noch massiver den Krieg in den Süden und Osten zu exportieren, die
Ungleichheit zwischen arm und reich noch weiter zu verschärfen und im
Inneren der reichen Länder einen totalitären "Sicherheitsstaat" aufbauen
oder Sicherheit durch Kooperation, sozialen Ausgleich,
vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung. Die Welt ist zu vernetzt und
zu verletzlich geworden, als dass es noch Sicherheit gegen andere und
durch Unterdrückung anderer geben könnte, es kann sie nur mehr mit
anderen und auf gleicher Augenhöhe geben. Eine Politik der Vergeltung
der Vergeltung bringt uns dem Abgrund weltweiter Barbarei immer näher.
Eine Welt, in der 385 Einkommensmilliardäre über dasselbe Vermögen
verfügen, wie die unteren 45 Prozent der Weltbevölkerung, eine Welt, in
der das oberste Fünftel der Menschheit das 75-fache des untersten
Fünftel besitzt, eine Welt, in der eine Milliarde hungert und jährlich 7
Millionen Kinder unter fünf Jahren an Unterernährung oder
Medikamentenmangel sterben, kann keine friedliche sein. USA und EU
produzieren 4/5 des weltweiten Kriegsgerätes und sind für 4/5 der
weltweiten Waffenexporte verantwortlich. Mit einem Bruchteil dieser
Ausgaben könnte das schlimmste soziale Elend überwunden werden. Der
Friedensforscher Johan Galtung ist der Meinung, dass der Westen die
Gelegenheit trotz aller Tragik als "Riesenchance" zur Lösung des
Konfliktes mit dem Islam und zu einer "Weltdiskussion" über die globale
Umverteilung zugunsten der Ärmsten nutzen sollte.

Derzeit deutet jedoch alles darauf hin, dass die Machthaber dieser Welt
den barbarischen Anschlag auf New York und Washington nutzen wollen, um
den Teufelskreislauf noch weiter anzuheizen: Die US-Führung hat bereits
den Krieg erklärt und kündigt heftigste und langandauernde
Militäraktionen an; und in der EU mehren sich die Kommentare, die
fordern, dass die EU die "Machtlücke" füllen muss, die eine
angeschlagene USA hinterlassen. Spätestens seit dem Jugoslawienkrieg
läuft auch in der EU die Aufrüstungsmaschinerie auf Hochtouren. Bis 2003
wird eine Euro-Armee aufgestellt, die erklärtermaßen für Kriege im Nahen
Osten, Zentralafrika und Kaukasus bereitsteht. Die Gewalt wird auch auf
Europa zurückschwappen.

Die rauchenden Trümmer des Word Trade Center sind ein Menetekel:
entweder jetzt die Spirale der Gewalt zu durchbrechen oder auch der
Nordwesten der Weltkugel rast auf eine Katastrophe zu, die für viele in
der süd-östlichen Hemisphäre bereits Wirklichkeit ist. Nur starke
Friedensbewegungen können jetzt noch der Vernunft zum Druchbruch helfen,
die den Machteliten völlig abhanden gekommen ist.

(Beschlossen auf der 8. ordentlichen Vollversammlung der
Friedenswerkstatt Linz am 13. September 2001)