Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich
Islamische Religionsgemeinde Wien
für Wien, Niederösterreich und Burgenland
1070 Wien, Bernardgasse 5, Tel: 526 31 22
Gedanken zum Fall "Safiya Hussein"
Mit Erleichterung nehmen wir die Freisprechung Safiya
Husseinis auf.
Verständlicherweise ist ihr Fall auf große Anteilnahme aus allen Richtungen
gestoßen. Die Diskussion um die Praxis der Rechtsprechung in Teilen Nigerias
geht
weiter, wobei man sich wünschen würde detailliertere
Informationen zu erhalten,
denn was sich hier unter dem Stichwort "Scharia" abgespielt haben
soll, ist
auch theologisch für uns nicht nachvollziehbar.
Immer wieder kann man sich fragen, wie in Ländern, die von sich sagen, die
Scharia eingeführt zu haben, vor allem Fälle in der Art Safiya
Husseinis
traurige Schlagzeilen machen. Will man etwa eine islamische Ausrichtung mittels
Durchsetzung harter Strafen, die unter fragwürdigen Umständen verhängt werden,
der Weltöffentlichkeit präsentieren? Was hören wir dagegen von positiven
Maßnahmen wie der Anhebung des Bildungsstandards, Betonung der Frauenrechte,
Bemühung um einen Ausgleich sozialer Missverhältnisse oder Verbesserung der
Gesundheitsvorsorge, die islamisches Programm der Scharia sind?
Nicht nur auf diesen Fall bezogen erscheint es sinnvoll auf wesentliche
Punkte aus islamischer Sichtweise zu sprechen zu kommen.
Das Opfer darf nicht zum Täter
abgestempelt werden
Im Islam sollte selbstverständlich dem Opfer eines Verbrechens jeglicher
Schutz zuteil werden. Einer Frau, die mit dem traumatischen Erlebnis
einer
Vergewaltigung leben muss, gebührt Hilfe und Verständnis. Ihr ist Zwang angetan
worden. Das islamische Prinzip jedes Tun unter Zwang nie als Verfehlung zu
betrachten, sollte ihr psychologisch einen Weg weisen sich weiterhin mit sich
selbst im reinen zu fühlen. Auch die Gesellschaft ist aufgefordert sie mit
jeglichem Respekt zu behandeln. Umgekehrt sind die Täter zur Rechenschaft zu
ziehen. Eine andere Vorgehensweise könnte die Gefahr in sich bergen, dass
Frauen
den Gang zum Richter scheuten und dies wieder Auswirkungen auf die Zahl
sexueller Übergriffe hätte.
Selbstverständlich wäre es auch unvertretbar, wenn erst juristische Finten
einem Menschen zu seinem Recht verhelfen und die ehrliche Aussage Probleme
einträgt. Dann kann wohl nicht von "Wahrheitsfindung" gesprochen
werden, wobei
Wahrheit ein entscheidendes ethisches Ideal des Islam ist.
Scharia ist nicht gleich
Strafgesetzgebung
Die Scharia gründet sich auf den Koran und die Sunna,
d.h. die vorbildliche
Lebensweise des Propheten Muhammad, aus deren Ableitungen die Muslime durch
ihre Gelehrten Schlüsse auf die Lebensweise ziehen. In erster Linie geht es um
ethische Richtlinien und Erläuterungen zu gottesdienstlichen Handlungen wie
dem Gebet. Als umfassendes Gebilde spricht die Scharia sehr konkret soziale
Fragen an, wie etwa die persönliche Grundsicherung durch die Zakat, die
sozial-religiöse Pflichtabgabe, und erklärt detailliert den Modus der
Verteilung.
Das Strafrecht macht nur einen Bruchteil der Scharia aus. Namhafte
islamische Theologen betonen, dass die Einführung der darin formulierten
Strafen eine
höchst entwickelte, geradezu "ideale" islamische Gesellschaft zur
Bedingung
hat. Sie sollen der allerletzte Schritt bei der Ausbildung einer am Islam
orientierten Gesellschaft sein. So wie die Strafen bei Diebstahl historisch
schon
ausgesetzt waren, weil eine allgemeine Hungersnot und soziales Elend
herrschten, wäre es widersinnig in einer desolaten, verarmten und großteils
ungebildeten Gesellschaft diese Strafen einzuführen.
Eine ganze Reihe von rechtswissenschaftlichen Instrumenten vom
Analogieschluss bis zum Idschtihad, dem Prinzip der
freien Meinungsbildung innerhalb des
Gefüges der Religion, sucht die Flexibilität für sich wandelnde Verhältnisse
zu garantieren. Die Basis der Religion ist nach muslimischem Verständnis
unverrückbar. Doch sollten Zeit, Ort und handelnde Personen bei der Erstellung
eines Rechtsgutachtens, einer Fatwa, vom Gelehrten
berücksichtigt werden.
Der Richter möge beim Freisprechen
irren, nicht im Strafen
Leben stellt im Islam ein so hohes Gut dar, dass ihm allerhöchster Schutz
gebührt. Aus diesem Geist heraus wäre ein leichtfertiger Umgang mit der
Verhängung der Todesstrafe dem Islam widersprechend. Interessant ist in diesem
Zusammenhang auch, dass durch die Betonung der Rechte des Verbrechensopfers bei
der Urteilsfindung Hinterbliebene eines Mordopfers oder Betroffene bei Fällen
von Körperverletzung einbezogen werden und verzeihen können - "Wer dies
aber
mildtätig vergibt, dem soll das eine Sühne sein." (Koran 5/45). Der Täter
geht
dann frei. Erst kürzlich wurde davon berichtet, wie einem Delinquenten durch
den Einspruch der Eltern des Mordopfers das Leben geschenkt wurde.
Die Gelehrten stimmen darin überein, dass die Androhung der Todesstrafe im
Islam vor allem dazu dient, verwerfliche Taten als solche klar vor Augen zu
führen und in Konsequenz von solchem Tun weiten Abstand zu nehmen.
Wollte man einen Fall außerehelichen Verkehrs vor ein islamisches Gericht
bringen, so wären vier Augenzeugen nötig, die den Akt als solchen gesehen haben
müssten - eigentlich unmöglich. Bekannt ist ein Vorfall, wo die Zeugen
befragt wurden, ob sie denn einen Faden zwischen den Leibern durchgezogen
hätten
und so die Verhandlung nicht mit einem Todesurteil endete.
Dass ein uneheliches Kind als Beweis außerehelichen Verkehrs herangezogen
würde, ist uns unbekannt.
Die beiden einzigen Fälle von vollzogenen Hinrichtungen wegen "Zina"
aus der
frühen Zeit des Islam gehen auf Selbstanzeige zurück. Und selbst hier ist
überliefert, dass der Prophet Muhammad sich mehrmals abwandte, um zu zeigen,
dass er dieses Geständnis gar nicht hören wolle. In einem der Fälle ging die
involvierte Frau straffrei aus, weil sie unter Eid ihre Unschuld beteuerte und
dies dem Gericht zur Beurteilung völlig genügte.
Eine fälschliche Beschuldigung stellt im Islam ein ernstzunehmendes Delikt
dar, da rufschädigende schlechte Nachrede unbedingt
zu verurteilen ist.
Schließlich sei an die Aussage des Propheten Muhammad erinnert, der Richter
dahingehend ermahnte, sich lieber beim Freisprechen zu irren als beim
Bestrafen.
In der 5. Sure des Koran lesen wir im Zusammenhang mit strafrechtlichen
Bestimmungen: "Wer aber nach seiner Sünde umkehrt und sich bessert, siehe,
zu dem
kehrt sich auch Allah; siehe, Allah ist verzeihend, barmherzig."
Wien, März
2002
Carla Amina Baghajati
Medienreferentin