Ein Gespräch mit Annemarie Schimmel
geführt von Thabet Eid 1995 in Luzern
Herausgegeben von M.M.Hanel; 7/2005
- Frau Schimmel, ich bitte Sie, die folgenden Vorurteile zu kommentieren:
1- “Der Islam unterdrücke die
Frauen”.
- Das ist natürlich ein Vorurteil, das seit Jahrzehnten, vielleicht seit
Jahrhunderten, in der westlichen Welt spukt.
Sie wissen, dass es auch manche Menschen gibt, die behaupten, dem Islam zufolge
habe die Frau keine Seele. Man braucht nur den Koran aufzuschlagen, um zu
sehen, dass die gläubigen Frauen und Männer - Muslime und Musliminnen -
nebeneinander stehen und die gleichen Pflichten religiöser Art haben.
Der Gedanke der Unterdrückung kommt wahrscheinlich daher, dass im Koran einige
Verkürzungen der Rechte der Frau vorkommen, dass z.B. die Tochter nur die
Hälfte dessen erbt, was der Sohn erbt. Das hat einen sehr praktischen Grund,
weil man ja als selbstverständlich annimmt, dass sie durch ihr Brautgeld
entschädigt wird und ihr Mann muss für sie aufkommen. Es ist auch das Problem
der Polygamie, das im Koran angedeutet wird: “So heirate denn von den Frauen zwei oder
drei oder vier”. Das ist ja kein Befehl, sondern es ist eine
Erlaubnis, die wahrscheinlich gegeben wurde in Kriegszeiten, als übermäßig viele
Frauen infolge des Todes ihrer Männer verwitwet waren, und außerdem hatte der
vorislamische Araber eine unbegrenzte Anzahl von Frauen zur Verfügung. Außerdem
gibt es die Notwendigkeit und die Regel, dass die Frauen in jeder Hinsicht
gleichmäßig zu behandeln sind, was die Modernisten dazu geführt hat zu
postulieren, dass Monogamie eigentlich das Ideale ist; denn welcher Mann kann
seine Frauen alle gefühlsmäßig gleich behandeln. Das ist durchaus eine logische
Sache - er kann zwar jeder von ihnen ein Haus kaufen oder ein neues Kleid zur
gleichen Zeit, aber gefühlsmäßig wird es wohl doch einen kleinen Unterschied
geben. Daraus schließen die Modernisten, dass Monogamie impliziert sei als
Ideal. Es gibt im Koran - das darf ich hier im Zusammenhang damit sagen, viele
solcher Anordnungen, die für eine bestimmte Zeit wirklich gelten, aber die auf
eine Zukunft hindeuten, die man dann auslegen kann. Und die große Gefahr ist,
dass man auf diese zukünftige Auslegung viel zu wenig Rücksicht nimmt. Das ist
für die Frauen so ...
Die Verschleierung ist im Koran auch nur angedeutet; es
heißt: Die Frauen sollten ihre Reize bedecken und man kann ja darüber streiten,
was nun die Reize sind. Jedenfalls ist die Verschleierung oder die Verhüllung,
sagen wir besser, zunächst einmal als Schutz für die höher stehenden, für die
Frauen aus höheren Schichten, also für die Frauen des Propheten Muhammad
eingeführt worden; denn die Dienerinnen und die einfachen Frauen waren nur mit
dem Notwendigsten bekleidet - und je länger, je mehr hat sich, vor allen Dingen
unter persischen Einfluss eine weitergehende Verhüllung der Frauen
herausgebildet. Aber die ganze Abschließung ist eine Folge sozialer
Entwicklungen und politischer Entwicklungen. Sie ist vielleicht angelegt, aber
durchaus nicht befohlen im Koran. Und auf diese Art und Weise haben sich viele
Gedanken, die nicht im Koran stehen - nicht nur über die Rechte und
Nicht-Rechte der Frau, sondern auch in anderen Beziehungen - durch die
volkstümliche Auslegung und die Fossilisierung, die Versteinerung der Sitten
und Gebräuche und durch das Einschließen anderer Sitten durchaus geändert. Z.B.
in Indien war es unter dem Einfluss des Hinduismus Sitte, dass muslimische
Witwen nicht wieder heiraten dürften. Es war ein großer Fortschritt, als man
dagegen wieder gekämpft hat.
All diese Dinge muss man vom historischen Standpunkt aus sehen - und ich
versuche immer gegen die negativen Bilder auch zu setzen, dass die Frau durch
den Islam das Recht auf ihr eigenes Vermögen bekommen hat. Sie kann das
behalten, was sie eingebracht hat und was sie während ihrer Ehe selbst verdient
- was also voraussetzt, dass sie aktiv Handel treiben oder einen Beruf haben
konnte. Und das ist ja etwas, was wir in Europa z.T. erst vor sehr kurzer Zeit
erreicht haben: Die Güter-Trennung in der Ehe.
Das, was ich immer besonders eindrucksvoll finde und zwar als
Religionshistorikerin, ist der Vers 182, Sure 2, wo den Männern gesagt wird,
sie sollten zu ihren Frauen gehen und dann kommt dieser schöne Ausdruck: “Sie sind ein
Gewand für euch und ihr seid ein Gewand für sie”. Und wenn man als
Religionshistoriker weiß, dass das Gewand gewissermaßen das „alter Ego“, das
andere Ich des Menschen ist, dann bedeutet ein solcher Ausdruck doch, dass Mann
und Frau wirklich einer des anderen bessere Hälfte ist von jeder Seite gesehen.
Und ich glaube dieser Vers sollte auch mehr zitiert werden, wenn man von den
Frauen im Islam spricht, denn darin - in diesem Vers - ist ja nun wirklich eine
Gleichstellung von Mann und Frau ganz deutlich gemacht.
2- “Die islamische Religion ist eine
Irrlehre und eine absichtliche Verdrehung der Wahrheit”.
- Das ist ein Vorwurf, den die mittelalterlichen Christen dem Islam gemacht
haben. Für sie war der Islam eine christliche Häresie. Es gibt sogar
mittelalterliche Legenden, nach denen Muhammad ein Kardinal war, der sich
darüber geärgert hat, dass er nicht Papst wurde und er hat dann eine neue
Religion gegründet! Das kommt in mittelalterlichen Quellen vor. Und es ist ja
auch verständlich, dass die mittelalterlichen Christen mit Entsetzen auf eine
solche “Häresie” reagiert haben. Denn es konnte ja doch logischerweise für sie
keine Religion nach dem Christentum mehr existieren - und man findet diesen
Glauben auch heute noch in weiten Kreisen der christlichen Bevölkerung. Und
auch Adolf von Harnek - immerhin noch fast ein Zeitgenosse von uns - hat den
Islam einfach auch als christliche Häresie abgetan und versucht, ihn zu
desavouieren.
Das ist also etwas, was man aus dem Mittelalter geerbt hat; und solche
Vorurteile bleiben ja leider sehr lange in den Menschen oder sogar in
kollektiven Unbewusstsein und werden dann immer zu passenden Zeit wieder
hervorgeholt.
3- “Der Islam ist eine Religion der
Gewalt und des Schwertes”.
- Ja, das kennen wir ja: Der Islam hätte sich mit Feuer und Schwert
ausgebreitet. Nun jede Religion hat in Glaubenskriegen ja Feuer und Schwert
benutzt - das Christentum ja auch, leider Gottes - Aber grundsätzlich ist -
kann man sagen, dass die Eroberungen, die mit Feuer und Schwert ausgegangen
sind, zum größten Teil aus rein politischen Gründen und nicht zur
Machtausdehnung des Islam als Religion verwendet sind. Wenn Sie z. B. an Timur
TamerIan im 14. Jahrhundert denken, der die Welt (?) seiner eigenen Landesleute
- der Perser, der Araber und der Türken - mit seinem Schwert so verwüstet hat -
Er hat das nicht getan, um des Islams willens, sondern er hat es getan, um
seine eigene Machtposition zu stärken.
Aber solche Dinge - gerade wie Timurs Eroberungen, die ja auch auf Europa
starke Nachwirkungen hatten - die haben dann das Bild noch stärker geprägt.
(Und ich erwähnte schon in meinem Vortrag), dass z. B. im Falle vieler
Grenzstaaten - also in früherer Zeit des indischen Subkontinents oder Malaysia
oder Westafrika als nicht Feuer und Schwert waren, sondern es waren die Sufis,
die mit ihren einfachen Lehren das Volk anzogen.
Z. B. in Indien haben wir den interessanten Fall, dass die Sufis ihre Hospize
oder wie man es nennen soll Konvente gegründet haben - und jedes dieser Fankas (3), dieser Hospize hatte eine
offene Küche - genau wie wir es aus dem Christentum auch von vielen Klöstern
kennen: Die Speisung der Armen gehört einfach zur Religion dazu und im
Hinduismus ist ja das Kasten-Tabu so stark, dass man nicht mit dem Mitglied
einer anderen Kaste gemeinsam essen darf. In diesem Konvent konnten die armen
Leute kommen und mit allen essen - niemand hat sie diskriminiert.
Einer meiner Kollegen hat den Satz aufgestellt, dass es eben durch diese
offenen Küchen war, dass viele Hindus zum Islam hingezogen waren. Also eine
sehr praktische und wenig religiöse Art der Eroberung. Aber das hat den armen
Leuten wenigstens etwas zu essen gegeben und sie wurden dann mit in die
Gemeinschaft aufgenommen. Es ist ja auch nicht das einzige Mal, dass solche
praktischen Dinge den Ausschlag zu einer Bekehrung gegeben haben.
Aber das Feuer-und-Schwert-Motiv ist natürlich durch die politischen Kämpfe
zunächst durch den sehr schnellen Vormarsch der Araber in Nordafrika im 7.
Jahrhundert genährt worden und zum anderen, und ich glaube, das ist in unserer
mitteleuropäischen Welt immer der kritische Punkt, durch die Eroberung der
Osmanen auf dem Balkan und dann die Belagerung von Wien 1529 - ich habe oft das
Gefühl, dass das wirklich der neuralgische Punkt in unserer Beziehung zum Islam
ist. Es gilt vor allem für Deutschland und Österreich. Und wenn Sie die ganze
Literatur im deutschen Sprachraum nach 1529 bis 1683 lesen, dann werden Sie
sehen, dass diese Belagerung von Wien ein derartiger Schock war, dass von da
aus alles, was nun negativ war, den Türken und den Muslimen nachgesagt wurde.
Und ich habe manchmal das Gefühl - das mag mein eigenes Gefühl sein - dass in
der Haltung zu den türkischen Gastarbeitern unterschwellig immer noch diese
merkwürdige Angst vor der Eroberung Wiens durch die Türken weiterlebt. Sie
wissen es wahrscheinlich gar nicht, aber das hat sich offenbar so eingeprägt
als ein Schreckensbild, dass man es heute auch unter ganz anderen Umständen
wieder hervorholen kann - und das ist besonders bedauerlich, als die Türken ja
durch die Jahrhunderte, zumindest vom Anfang des 19. Jahrhunderts an
leidenschaftliche Freunde Deutschlands waren und das Wort “Deutsche” für sie
das schönste und lobenswerteste war, was man sagen konnte. Und das bekümmert
mich immer, wenn ich dann sehe, wie unsere Landesleute sich in vielen Fällen so
negativ verhalten haben. Ich habe oft mit türkischen einfachen Leute
gesprochen, die gerade so betrübt waren, dass ein Volk, das für sie das
Idealvolk war, sie nicht gerade so ideal behandelt - um es milde auszudrücken.
Ich glaube also, dass diese ganze Feuer-und-Schwert-Theorie, die wie alles
einen kleinen historischen Hintergrund hat, aber wie ich sagte, in allen
Völkern und allen Religionen finden wir die Eroberer, denen es um die Macht
geht. Aber das ist gerade in unserem Verhältnis zu den Türken zu sehr großen
schweren Missverständnissen gekommen, die man einfach nicht so schnell
ausrotten kann - und das schmerzt mich ...
4- “Der Islam ist eine Religion der
Genusssucht”.
- Das kommt von den Übersetzungen, die im Mittelalter von
einigen eschatologischen Suren des Korans gemacht sind, wo das Paradies als
eine großer Lustgarten mit großäugigen Jungfrauen geschildert wird, in denen
die Menschen ihren Genuss finden. Und das hat vor allen Dingen die asketischen
christlichen Kreise im Mittelalter außerordentlich schockiert ebenso wie die
Tatsache, dass Muhammad nicht ein Zölibatär war wie Jesus, sondern dass er ein
ganz normales Eheleben geführt hat. Das war für den mittelalterlichen Frommen
einfach unvereinbar mit dem Ideal eines Gläubigen und Gottliebenden Menschen,
gar nicht zu sprechen von einem Propheten. Und diese beiden Dinge haben sehr
miteinander gewirkt, um das Bild des genusssüchtigen Islam im Mittelalter und
bis in die Neuzeit lebendig zu halten.
Als dann im 18. Jahrhundert die Märchen der 1001 Nacht zunächst auf Französisch
von Galland übersetzt wurden, da kam natürlich vieles von dieser Genusssucht
des Islam auch in die Literatur und in die Kunst. Und wenn Sie einmal die
bildende Kunst des 19. Jahrhundert ansehen, wie dort die Orientalinnen
dargestellt sind - die ganzen Haremszenen und ähnliches. Es gibt sehr viele
Bücher über “Orientalism in France” und “Images Orientales“. Es gibt eine ganze
Bibliothek über diese orientalische Malerei in der vor allen Dingen die
erotischen Aspekte, die die Maler meistens nie gesehen hatten, aber wie sie
sich das vorstellen, das wurde dann dargestellt. Und viele Dinge, die sie im
europäischen Milieu gar nicht hätten darstellen dürfen, die wurden dann einfach
kurz in die Türkei oder nach Arabien versetzt und dann ging es! Und das hat
natürlich auch sehr zu diesem Bild des genusssüchtigen Orients beigetragen. Und
man hat - und da muss ich Edward Said und vielen anderen Recht geben - man hat
darin eine wirkliche, eine willkürliche Entstellung des islamischen Orients
gesehen und das hat sicher seinen Grund.
Aber da wir gerade vom Paradies sprechen und von den großäugigen Jungfrauen,
will ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich sehr liebe:
Ein altes Mütterchen kam zum Propheten Muhammad und sagte: O Gesandter Gottes, du sprichst immer so schön vom
Paradies. Sag mir, kommen so alte Weiber wie ich da auch rein? Der Prophet
sagte: Nein. Dann guckte er sie an und sah wie traurig sie war. Dann lächelte
er und sagte: Nein, natürlich kommen sie nicht rein, denn sie werden alle in
schöne Jungfrauen verwandelt! Ich finde das eine so liebenswerte
Geschichte ...
5-“Muhammad ließ sich vom Teufel leiten; ja, er war der Antichrist”.
Das sind eben auch die mittelalterlichen Erzählungen. Wenn
Sie die französischen “Chansons de Gestes” lesen, dann können Sie das finden.
Es gibt auch die Vorstellung, dass Muhammad mit zwei anderen Gestalten zusammen
eine Art teuflische Trinität bildete. Im Englischen und Schottischen ist
Mohound der verballhornte Name Muhammad zum Namen für den Teufel geworden und
bis in unsere romantische Dichtung - ich glaube, es ist bei Novalis(5), ich bin
aber nicht ganz sicher - da kommt noch die Vorstellung von den goldenen Mahorns
Bildern, dass die Muslime goldene Statuen von Muhammad anbeteten und alle
solche Dinge.
Es gibt - glaube ich - nichts, was man nicht über den Islam, wie übrigens auch
über andere Religionen, wie den Hinduismus, Negatives gesagt hat. Und gerade
über das mittelalterliche Bild des Islam in den französischen “Chansons de
Gestes” und auch in der deutschen Literatur gibt es eine ganze Reihe von
älteren Arbeiten, die aber sehr gut und sehr gründlich sind - und da werden
alle diese Vorstellungen aus dem 8., 9., 10. Jahrhundert dargestellt, die sich
dann in der Kreuzzugzeit natürlich noch einmal kristallisierten. Wir hatten im
Jahre 1995 ja gerade den 900. Jahrestag des Beginns des ersten Kreuzzugs - das
war im November 1095. Also trotz der langen Zeit sind manche der Vorurteile
noch immer da.
6- “Im Islam haben die Menschen keine Rechte im Sinn vom Berechtigungen, sie
haben nur Pflichten Gott gegenüber!!”.
- Das habe ich noch nie verstanden. Denn sie haben natürlich ihre
Menschenrechte wie jeder das hat, nur mit dem Unterschied, dass zunächst einmal
die Loyalität des Menschen zu Gott ist. Denn Gott hat den Menschen geschaffen.
Und in Sure 17 steht es: “Wir haben die Kinder Adams geehrt” - d.h. die
Menschen haben eine besondere Stellung. Und mit Sure 32 heißt es dann, „Wahrlich, Wir
boten das Treupfand den Himmeln und der Erde und den Bergen an; doch sie
weigerten sich, es zu tragen, und schreckten davor zurück. Aber der Mensch nahm
es auf sich. Wahrlich, er ist sehr ungerecht, unwissend.“ - aber er
hat dieses Pfand - was es ist, wissen wir nicht genau - angenommen, das niemand
anders, auch die Berge nicht tragen konnten und wollten. Und der Mensch ist
dadurch ausgezeichnet, dass er das Pfand[1] - ob
es nun des Intellekts oder der Liebe oder des Gehorsams ist - das stellt ihn
über alle Geschöpfe - und die Rechte, die er hat sind niemals absolut und frei,
sondern sie sind immer zu verstehen in seiner Bindung an Gott - und wer an Gott
gebunden ist, sagt der Islam, der weiß auch, wie er die Rechte der anderen zu
schützen hat. Das ist ja im Koran auch genau festgelegt, wie die Verantwortung
des Menschen für seine Mitmenschen und für die Gemeinschaft ist. Also in dieser
Beziehung würde ich sagen, der Mensch hat durchaus Rechte, nur werden sie etwas
anders oder in einem anderen Kontext formuliert, als wir es im
nachaufklärerischen Westen wohl tun würden, wo wir die Beziehung zu Gott doch
weitgehend eliminiert haben.
7- ”Die Muslime seien dem Westen
gegenüber feindlich eingestellt”.
- Nun ja, das ist zu einem Teil wahr. Denn sie haben ja in
den letzten 150 oder 200 Jahren sehr viel westlichen Kolonialismus erlebt und
für einen frommen Muslim ist es ja doch sehr erschreckend gewesen, wenn z.B.
die britischen Missionare kamen und alles, was sie glaubten absolut ablehnten
und ihnen erklärten, dass sie eigentlich ja nur Untermenschen sind. Wir haben
da gerade aus dem indischen Islam eine große Anzahl von Quellen - wir wissen
von Diskussionen zwischen christlichen Missionaren und muslimischen Frommen,
die oft sehr dramatisch waren. Also gerade im indischen Islam haben wir diese
Aversion gegen die Kolonialmacht und gegen die missionarische Macht sehr stark
ausgeprägt. Aber es gilt für die anderen Länder auch “mutatis mutandis”.
Heutzutage ist es einfach eine gewisse Furcht vor der überall sichtbaren
Technisierung, der Amerikanisierung und die Aversion geht gegen die negativen
Aspekte, oder was man als negative Aspekte empfindet - eine Übermodernisierung,
eine Überverwestlichung - beispielsweise in sexueller Freiheit und ähnlichem.
Und dagegen reagiert man sehr allergisch und sehr deutlich. Die große Gefahr
ist natürlich - und das muss man auch immer wieder sagen - dass bei der
Ablehnung dieser Äußerlichkeiten des Westens - die viele von uns ja auch,
glaube ich, ablehnen - dass man da vergisst, dass man vom Westen auch Vieles
lernen kann, nämlich technische, wissenschaftliche Akribie und Methodik.
Und Iqbâl und viele Modernisten haben gesagt, dass es durchaus möglich und
wünschenswert ist, dass man ein Muslim bleibt und bleiben kann, aber sich das
technische und wissenschaftliche Rüstzeug des Westens aneignet. Das halte ich
also für eine sehr gesunde Haltung. Aber wenn man kurzsichtig ist und nur die
negativen Aspekte sieht, dann kann man natürlich genau so zu schiefen Urteilen
über den Westen kommen, wie man im Westen zu schiefen Urteilen über den Islam
kommt. Es ist einfach eine Frage der Unkenntnis oder dessen, dass man die
negativen Aspekte, die gerade an der Oberfläche sichtbar werden, als Ganzes nimmt
und nicht auf die Mannigfaltigkeit und die Möglichkeit des Verstehens eingeht.
8- “Der Dschihâd heisst heiliger Krieg”.
- Das ist eine Übersetzung, die mich seit Jahrzehnten
bekümmert und es bekümmert mich noch mehr, dass die Muslime selbst jetzt auch
von “Holy War” und so etwas sprechen. Dschihad ist ein sehr einfaches Wort:
“dschâhada” heisst sich anstrengen. “Dschihâd” ist: das Sich Anstrengen mit
einer Sache. Es ist diese Anstrengung im Wege Gottes, d.h. man bemüht sich,
etwas für Gottes Sache gut zu machen und das kann auch den Kampf gegen die
Ungläubigen einschließen. Mein Mitarbeiter in Harvard, selbst ein Muslim, dem
ist immer wieder diese Frage in seinen Vorträgen und von unseren Studenten
gestellt worden: Was ist Dschihad? Heiliger Krieg? und er hat gesagt: Nein.
Weißt du, durchaus nicht. Es bedeutet einfach, wenn du dich anstrengst. Und
wenn du morgens im Bett liegst und du bist zu faul aufzustehen und du zwingst
dich, dann ist das auch ein Dschihad!
9- “Es gebe nur einen einheitlichen Islam”.
- Das stimmt auch nicht. Der Islam ist genauso vielschichtig
und vielseitig, wie das Christentum. Ich sage immer, wer den Islam als eine
Einheit betrachtet, ist so, als ob er im Christentum die Unterschiede zwischen
russisch-orthodoxer Kirche und amerikanischen Freikirchen übersähe und sagt, es
ist alles eins. Die Basis ist eins, das ist ganz klar. Jeder Muslim wird
anerkennen, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass Muhammad der
abschließende Gesandte ist, durch den Gott seinen Willen in der Welt wieder und
zum letzten Mal kundgetan hat. Aber alle anderen Dinge sind so verschieden, wie
es aus den kulturellen Verschiedenheiten hervorgeht. (Wenn Sie z.B. meine Thema
von vorhin ansehen) - die Sufiorden und viele andere haben gezeigt, dass die Orden
sich an die verschiedensten Gruppen von Menschen wenden und ein Orden, der in
Nordafrika oder in Nigeria entsteht, wird ein ganz andere und wahrscheinlich
sehr viel praktischeren Ausrichtung haben, als ein Orden, der in Indien oder in
Indonesien, mit seiner ganz anderen Bevölkerung, mit seiner ganz anderen
Ethnizität steht, zeigen wird und genau so ist es auch mit allem anderen. Wie
gesagt: Die Grundlage ist eins, aber die Variationen sind eben so viele, wie
die verschiedenen ethnischen Gruppen.
Eine Religion, die Anhänger in China hat und in Schwarzafrika - in beiden
Fällen wird es die Grundlagen geben, aber ansonsten im Denken, in der
Philosophie gibt es doch große Unterschiede. Genau wie ein Christ an Gott und
Jesus glaubt, an die unbefleckte Empfängnis und ähnliche Dinge - aber daraus
können sich ganz andere philosophische Entwicklungen ableiten lassen.
Und selbst wenn die religiöse Poesie in den verschiedenen islamischen Ländern -
ich denke gerade an Propheten-Loblieder - im Tenor sehr einheitlich ist, aber
die Einzelheiten, das lokale Kolorit spielt immer eine Rolle. Ich würde also
sehr vorsichtig sein, wenn ich von dieser angeblichen Einheit des Islam
spreche. Ich würde immer sagen, die Grundlage ist eine ... es ist wie ein
großer Baum mit einem riesigen Stamm, aber die Zweige, die sind doch
verschieden, sie gehören zum gleichen Baum, aber sie haben ihr eigenes Leben
und man kann sie studieren, aber man kann sie nicht von dem großen Baum
abtrennen - aber sie sind doch etwas Besonderes. Und ein Zweig, der in der
Sonne wächst, ist anders, als einer, der im Schatten wächst, hat andere Blüten,
vielleicht andere Blätter.
Jedenfalls ist es eine außerordentliche Vielfalt und das ist gerade das
Faszinierende: Diese Vielfalt der Einheit, die man auch in der islamischen
Kunst sehr deutlich sieht. Wenn Sie an die islamische Kalligraphie - die
Zentralkunst des Islam - denken, dann finden Sie natürlich die klassische Form,
wie sie durch die Jahrhunderte geprägt ist. Und wenn Sie einen Koran sehen, der
in Nigeria geschrieben ist, und einen, der in China geschrieben ist, dann
werden Sie zwar die Buchstaben erkennen, aber der Stil ist ganz anders und
typisch lokal - und genau so ist es mit den religiösen, mit den
philosophischen, den theologischen Aus-prägungen des Islam.
Und es ist in letzter Zeit - das muss man auch sagen - eine in manchen Gebieten
zu etwas mehr Vereinheitlichung gekommen, vor allen Dingen in Afrika, weil dort
die Missionare aus Ägypten gewissermaßen eine Vereinheitlichung durchgeführt
haben.
All diese Dinge muss man mitverstehen. Aber grundsätzlich finde ich gerade
Diversität in der Einheit, die sich auf den Gottes Glauben bezieht, so
faszinierend. Und ich darf vielleicht hier einen Vers aus dem Sindhi, aus dem
16. Jahrhundert, zitieren, wo der erste große Sindhi Dichter von Gott spricht,
der wie ein Banja Baum - Sie wissen Banja Bäume haben diese hunderte von
Luftwurzeln, so dass ein Baum so groß sein kann wie dieser ganze Raum und er
hat doch nur einen Stamm - und der Dichter vergleicht Gott und seine
Manifestationen mit einem Banja Baum, der ein Baum ist und doch wie ein
ganzer Wald aussieht. Ich glaube dasselbe Bild könnte man auch den Islam
anwenden: Er ist eine Einheit, aber er hat alle diese hunderte von Luftwurzeln
...
10- “Der Islam sei wissenschaftsfeindlich”.
- Nun da braucht man nur die mittelalterliche islamische Philosophie und vor
allen Dingen die naturwissenschaftlichen Leistungen der Araber zu sehen: Die
Araber haben ja im Mittelalter durch ihre Übersetzungen aus dem Griechischen,
die sie dann durch ihre eigenen Kenntnis angereichert und ausgearbeitet haben,
wirklich die Grundlagen für die europäische Naturwissenschaft gelegt. Und wir
wissen, dass die medizinischen Werke von Rhazes und Ibn Sînâ bis in die
Renaissance in Europa verwendet wurden, von Augenheilkunde, ganz zu schweigen
von Astronomie, Astrologie, Mathematik.
Die Theorie oder die Lehre, dass der Islam wissenschaftsfeindlich ist, die ist
meistens auf die spätere Zeit, also die Zeit nach 1258, der Zerstörung von
Baghdad durch die Mongolen, bezogen. Aber moderne Wissenschaftler - ich denke
gerade an George Saliba in New York - haben bewiesen, dass auch in den
Jahrhunderten danach noch eine außerordentliche naturwissenschaftliche
Aktivität stattgefunden hat, oder Suyutî in Kairo, 1505 gestorben, hat auch
erstaunliche naturwissenschaftliche Beobachtungen gemacht(7), ganz zu schweigen
von den Muslimen in Zentralasien und in Indien.
Denken Sie an das grosse Observatorium, das der Sohn von Timur im 15.
Jahrhundert in Samarkand gebaut hat, oder an die wissenschaftlichen Leistungen,
die in Indien in den späteren Jahrhunderten, oder auch in der osmanischen
Türkei aufgekommen sind. Es sind vielleicht nicht so spektakuläre Dinge, wie
wir sie aus unserer europäischen Nach-Renaissance Geschichte kennen, aber sie
sind genug bemerkenswerte Erfahrungen darin.
Die Diskussion dreht sich natürlich um das Wort „ilm“ = Wissenschaft, das in
der klassischen Zeit oftmals nur für die Wissenschaften im Koran angewendet
wird und trotzdem - vor allen Dingen im Plural „ulum“ - auch die anderen
Wissenschaften einbegreift.
Es war sehr beeindruckend, als ich voriges Jahr (1994) in Samarkand war …
In einer kleinen Zelle waren Bücher ausgestellt. Darunter eine Handschrift der
Traditionen, die Buchârî gesammelt hat - das ist die wichtigste Sammlung von
Aussprüchen des Propheten und Berichte über seine Handlungen - und es war
aufgeschlagen und auf der ersten Seite stand ein Wort, das Muhammad
zugeschrieben wird: “Die Suche nach Wissenschaft,
nach Wissen, ist religiöse Pflicht jedes Muslims und jeder Muslimin”.
Das war das liebste Wort, das ... Bek (?) hatte. Und das hat er auch in
Ragastan in einer Inschrift anbringen lassen. Aber es ist ein so bewegendes
Gefühl, wenn man das in der Handschrift sieht, die ... Bek(?) selbst benutzt
hat.
Ich glaube gerade die Tatsache, dass die Suche nach Wissenschaft “die Pflicht
jedes männlichen und weiblichen Muslims ist”, scheint mir doch sehr gegen die
Bemerkung zu sprechen, dass der Islam wissenschaftsfeindlich ist.
Und wenn Sie die modernen Muslime ansehen, die nehmen an allen
wissenschaftlichen Tätigkeiten teil. Wir haben immerhin einen muslimischen
Nobelpreisträger in Physik: Abd as-Salâm aus Pakistan. Ich glaube, man kann
nicht schließen aus einer Zeit der Dekadenz und des Verfalls, in der die
islamische Welt wirklich daniederlag, dass das nun seit Jahrhunderten so
gewesen sei - ich glaube, wenn wir etwas tiefer forschen und nach den Ursachen
sehen, die zu dieser angeblichen Wissenschaftsfeindlichkeit geführt haben, dann
werden wir manches finden.
Es ist - und hier muss ich auch wieder ... sagen - es ist natürlich so, dass in
einer starren Gesellschaft, wo eine fossilisierte Gesetzes-Religion das
wichtigste ist, dass da wenig Raum für freie wissenschaftliche Forschung ist. Aber
das ist eine Entwicklung, die ja dem eigentlichen dynamischen Geiste des Islam
widerspricht.
Wenn Sie einmal das Buch von Muhammad Iqbâl gelesen haben: “Six Lectures of the
Reconstruction of Religious Thought in Islam”, dann werden Sie sehen, wie Iqbâl
mit ein einer außerordentlichen Geschicklichkeit europäische Philosophie,
islamische Philosophie und Theologie und moderne Naturwissenschaften in ein
höchst interessantes Ganzes webt, das auch den Muslimen den Weg zu neuen
Unternehmungen im Wissenschaftlichem, in allen Gebieten weisen kann. Ich
glaube, das ist schon mal ein sehr großer Schritt vorwärts.
- Frau Schimmel, ich danke Ihnen für
das Gespräch.
[1] Treuhänderamt; Khilafah; des Menschen Amt als Treuhänder Gottes Seine Schöpfung zu pflegen und in Seinem Sinne zu verwalten