Segenskraft und das
Finden der inneren Mitte
Über Baraka und Dhikr im Monat Ramadan
- Von Abdurrahman Reidegeld, Köln
Wohl kaum in der neueren Geschichte war der Muslim so
vielen Anfechtungen und Heimsuchungen ausgesetzt wie in diesen letzten Jahren,
und nach wie vor scheint es den meisten Menschen weltweit nicht möglich, sich
in Ruhe zu besinnen. Zu viele Eindrücke und furchtbare Erlebnisse beherrschen
Denken und Bewusstsein, zu sehr sind wir alle einer Lebensweise entfremdet, die
ganzheitlich, in sich selbst und aus sich selbst, Kraft und Stärke schöpfen
kann. Der Muslim erlebt aus seiner Warte heraus das derzeitige Weltgeschehen
als passiver Beobachter und Erleidender ohne Stimme - jedenfalls misst man
seiner Stimme offenkundig in der Weltbevölkerung keinen Wert zu.
Und dennoch gibt es Hoffnung.
Und dennoch gibt es die Möglichkeit, Allahs Zufriedenheit zu erlangen, und
zugleich die Chance auf Erkenntnis einer Änderung. „Wie das alles“, seufzt da
sicher so mancher, „wie sollte das geschehen?“
Dazu gehört vor allem die Einsicht, dass fast jeder
Muslim seine innere Mitte verloren hat. Damit meine
ich die Kraft, die sich aus Wissen (‘Ilm) und
Gedenken Allahs (Dhikr) speist.
Wer keine Zeit findet, sich
auch nur fünf Minuten jeden Tag still hinzusetzen und alle auf ihn
einstürmenden Dinge abzublocken, nur konzentriert
auf ein bestimmtes Wort Allahs, der hat verloren: Er wird nämlich
zum Spielball der Wellen, die das Meer des Diesseits aufpeitschen, er kann in
seinem kleinen Boot sein Steuerruder kaum festhalten, immer bedroht von der
nächsten Böe, der nächsten Mauer aus Wasser und Gischt, dreht sich und klammert
sich an das Ruderholz, anstatt es zu führen.
Diese Welt ist ein Ort der Täuschung; Allah der Erhabene
selbst sagt dies deutlich in vielen Versen, etwa in Sure Al-Hadid,
20:
„Und das diesseitige Leben ist lediglich eine
vorgetäuschter, angenehmer Nießbrauch.“
Denselben Grundinhalt zeigt die berühmte
Prophetenüberlieferung (Hadith), welche lautet: „Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen
sie.“ Das diesseitige Leben wird also mit einem Traum, das jenseitige
aber mit der eigentlichen Realität verglichen.
Es gehört zu den größten Erfolgen der Weisen aller
Kulturen und Völker, erkannt zu haben, dass nur in der Art der Selbstbesinnung
und des inneren Gedenkens der Mensch sich von den Zwängen seines Hier und Jetzt
befreien kann.
„Was meinst Du damit?“, möchte da sicher so mancher
fragen, „willst Du etwa andeuten, dass durch deine Art des Gedenkens unsere
Probleme hier und jetzt gelöst werden?!“
Nun, entgegne ich darauf, wer
sich - gemäß einer Reihe von sicheren Hadithen
- selbst erkennt, kann seinen Herrn erkennen;
im Umkehrschluss gilt daher: wer sich nicht selbst erkennt, kann auch seinen
Herrn nicht erkennen. Außerdem wird die Art des Dhikr,
in der der Mensch sich im Gedenken/Dhikr seiner
Existenz und den Welten zuwendet, von Allah dem Erhabenen ausdrücklich
gewünscht, wie etwa in den berühmten Versen am Ende der Sure Al- ‘Imran (83), Ajat 191:
„Diejenigen, die Allahs gedenken /bezüglich Allahs Dhikr vollführen, stehend, sitzend und auf ihren Seiten
ruhend, und über die Erschaffung der Himmel und der Erde nachdenken […]“
Dies ist der erste Schritt, um innere Ruhe vor
Anfechtungen zu erlangen. Das zweite ist ein aktives
Streben nach Segenskraft, der Baraka. „Welche
Bedeutung hat denn die Baraka in unserer Zeit, welche
Probleme ließen sich wohl damit lösen?“, fragt da wiederum so mancher in seinem
Inneren. Genau das ist der Schlüssel zum Verständnis: weil so viele Muslime
in Wahrheit nicht mehr überzeugt sind, dass alles möglich ist, wenn Allah es
verfügt, dass auch die so genannten Naturgesetze nur Grundregeln sind, die wohl
meist gelten, aber keineswegs immer gelten müssen, erkennen sie in ihrem
Inneren die Möglichkeit von außergewöhnlichen Dingen, von Wundern, von
besonderen Zeichen, die Allah auch hier und heute, jenseits aller Handlungen
der Menschen, setzen kann, nicht mehr an.
Es ist eine geheime Verweigerung des Denkens, eine
Diktatur der geistigen Verzweiflung, welche in - zugegebenermaßen - schlimmen
Zeiten der Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Heimsuchung ihren Weg in die
Herzen sucht.
Aber genau davor warnte Allah und Sein Gesandter, Allah
segne ihn und schenke ihm Frieden: nicht der völligen
Verzweiflung (Ja’s) anheimzufallen;
so heißt es in Sure Jusuf, 87-88:
„Verzweifelt nicht hinsichtlich der Barmherzigkeit Allahs
(rauhi-llah), wahrlich nur die Menschen, die die
Wahrheit verleugnen, verzweifeln an der Barmherzigkeit Allahs.“
Wer dies demnach tut, hat in Wahrheit schon an Allah und
Seiner Allmacht gezweifelt, daran, dass Er die wahre Herrschaft immer und
überall, über alle Menschen und sämtliche Schöpfung, innehat, immer innehatte
und immer innehaben wird.
Stattdessen steht es dem Muslim an, sich eingedenk zu
sein (Dhikr), dass gemäß der Gewohnheit Allahs (der Sunnatu-llah) bestimmte Voraussetzungen erforderlich sind,
damit man Vergebung und Kraft erhält. Es heißt klar und deutlich in der Sure Al-Fath, 43:
„Also wirst du in der Gewohnheit Allahs (li-sunnati-llahi) keinen Wandel (tabdila)
finden, und du wirst auch in der Gewohnheit Allahs keine Abweichung (tahwila) finden.“
Dies bezieht sich darauf, dass Widersetzlichkeit Strafe
nach sich zieht, und auch dass der Gehorsam gegenüber Allah und seinen
Gesandten Lohn und Fortkommen in Diesseits und Jenseits bewirkt. Man zeigt
seine Liebe und seine Ergebenheit Allah gegenüber in Gottesdienst (Ibada), und der Lohn in Diesseits
ist Segen in allen Dingen (Baraka), während der Lohn
des Jenseits das Paradies ist.
Manche Zeiten und Zeitpunkte sind besser geeignet als
andere, um auf dem Wege der Ibadât, der
Gottesdienstlichen Handlungen, voranzukommen, um Vergebung für Sünden zu
erlangen, um der Annahme der guten Handlungen sicherer sein zu können, um auf
Erhörung des Du’a, des freien Bittgebetes, hoffen zu
können.
So ist der Tag des Dschumu’a, des Freitagsgebets, vorzüglicher als die anderen
Tage, und so ist eine Stunde des Dschumu’a-Tages
besser als die übrigen; in den Sahih-Überlieferungen
heißt es: „Es gibt eine Stunde am Freitag, in der kein Du’a’
zurückgewiesen wird.“
Auch ist das letzte Drittel
einer jeden Nacht besser - hinsichtlich der Erhörung der Bitten an Allah
- als die ersten zwei Drittel jener Nacht. Und derart
ist auch der Vorzug des Monats Ramadan gegenüber den restlichen Monaten des
Jahres, und im Ramadan sind die ‘Ibadât der Nächte
vorzüglicher - weil höher angesehen - als die am Tag verrichteten.
Schließlich sind die zehn
letzten Nächte des Ramadan wertvoller als die übrigen Nächte des Monats,
und in diesen zehn letzten Nächten liegt die Nacht der Bestimmung, die Lailatu’l-Qadr, in welcher
jegliche Ibada besser ist als gleichartige Ibada während tausend Monaten. Die Baraka dieser Nacht - und allgemein des Ramadan - wird
durch den Qur’an ausdrücklich bestätigt in der Sure Ad-Dukhan,
3, wo es heißt:
„Wahrlich, Wir sandten ihn (den Qur’an) herab in einer
Nacht voller Segenskraft (fi lailatin mubaraka)“, wobei die Gelehrten absolut einig
sind, dass hier die Lailatu-l-Qadr gemeint ist.
Die Auswirkung dieser Baraka
ist nicht nur geistig, sondern erstreckt sich auch auf Versorgung (Rizq) und sämtliche Aspekte des Lebens. Wer also diese Baraka des Ramadan
und der Nacht der Bestimmung zu nutzen weiß, dem eröffnen sich - mit Allahs
Hilfe - Wege, die er sich nicht vorzustellen vermag.
Nichts
ist unmöglich, wenn Allah - Erhaben ist Er - es will.
Quelle:
www.islamische-zeitung.