28. September 2001 12:28:49

Arundhati Roy: Terror ist nur ein Symptom

Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist

Von Arundhati Roy

Nach den skrupellosen Selbstmordanschlaegen auf das Pentagon und das WorldTrade Center erklaerte ein amerikanischer Nachrichtensprecher: "Selten zeigen sich Gut und Boese so deutlich wie am letzten Dienstag. Leute, die wir nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und sie haben es voller Verachtung und Schadenfreude getan." Dann brach der Mann in Traenen aus.

Hier haben wir das Problem: Amerika fuehrt einen Krieg gegen Leute, die es nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor die amerikanische Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn angefangen hat, sein Denken zu verstehen, hat sie, mit grossem Tamtam und peinlicher Rhetorik, eine "internationale Allianz gegen den Terror" zusammengeschustert, die Streitkraefte und die Medien mobilisiert und auf den Kampf eingeschworen. Allerdings wird Amerika, sobald es in den Krieg gezogen ist, kaum zurueckkehren koennen, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben.
Wenn es den Feind nicht findet, wird es, der aufgebrachten Bevoelkerung daheim zuliebe, einen Feind konstruieren muessen. Kriege entwickeln ihre eigene Dynamik, Logik und Begruendung, und wir werden auch diesmal aus dem Blick verlieren, warum er ueberhaupt gefuehrt wird.

Wir erleben hier, wie das maechtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu fuehren.
Nun, da Amerika sich selbst verteidigen muss, sehen die schnittigen Kriegsschiffe, die Cruise Missiles und F-16-Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfaellig aus. Amerikas nukleares Arsenal taugt nicht zur Abschreckung.
Teppichklingen, Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die Kriege des neuen Jahrhunderts gefuehrt werden. Wut ist der Schluessel. Ihn bekommt man unbemerkt durch den Zoll, durch jede Gepaeckkontrolle.

Gegen wen kaempft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongress bezeichnete Praesident Bush die Feinde Amerikas als "Feinde der Freiheit". "Die Buerger Amerikas fragen, warum sie uns hassen", sagte er. "Sie hassen unsere Freiheiten - unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit zu waehlen, uns zu versammeln und nicht immer einer Meinung zu sein."
Zweierlei wird uns verlangt. Zumeinen sollen wir glauben, dass der Feind der ist, der von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, dass die Motive des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden, obwohl es auch dafuer keine Beweise gibt.

Aus strategischen, militaerischen und oekonomischen Gruenden muss die amerikanische Oeffentlichkeit unbedingt davon ueberzeugt werden, dass Freiheit und Demokratie und der American way of life bedroht sind. In der gegenwaertigen Atmosphaere von Trauer, Empoerung und Wut ist derlei leicht zu vermitteln.
Wenn das tatsaechlich stimmt, stellt sich jedoch die Frage, warum die Anschlaege den Symbolen der wirtschaftlichen und militaerischen Macht Amerikas galten.
Warum nicht der Freiheitsstatue? Koennte es sein, dass die finstere Wut, die zu den Anschlaegen fuehrte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern damit, dass amerikanische Regierungen genau das Gegenteil unterstuetzt haben - militaerischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution, Militaerdiktaturen, religioese Bigotterie und unvorstellbaren Genozid (ausserhalb Amerikas)?

Fuer die trauernden Amerikaner ist es gewiss schwer, mit Traenen in den Augen auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen vielleicht als Gleichgueltigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht um Gleichgueltigkeit.

Es ist eine Ahnung, ein Nicht-Ueberraschtsein. Es ist eine alte Erkenntnis, dass jede Saat irgendwann auch aufgeht. Die Amerikaner sollten wissen, dass der Hass nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung. Ihnen kann unmoeglich entgangen sein, dass ihre aussergewoehnlichen Musiker, ihre Schriftsteller, Schauspieler, ihre phaenomenalen Sportler und ihre Filme ueberall auf der Welt beliebt sind. Wir alle waren bewegt von dem Mut und der Wuerde der Feuerwehrleute, der Rettungskraefte und der gewoehnlichen Bueroangestellten in den Tagen und Wochen nach den Anschlaegen.

Amerikas Trauer ist immens und immens oeffentlich. Es waere grotesk, von den  Amerikanern zu erwarten, dass sie ihren Schmerz relativieren oder maessigen.
Aber es waere schade, wenn sie, statt zu versuchen, die Ereignisse des 11. September zu begreifen, das Mitgefuehl der gesamten Welt beanspruchten und nur die eigenen Toten raechen wollten. Denn dann waere es an uns, unangenehme Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen. Und weil wir zu einem unpassenden Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen, wird man uns tadeln, ignorieren und am Ende vielleicht zum Schweigen bringen.

Doch die Zeichen stehen auf Krieg. Was gesagt werden muss, sollte rasch gesagt werden.
Bevor Amerika das Steuer der "internationalen Allianz gegen den Terror" uebernimmt, bevor es andere Laender auffordert (und zwingt), sich an seiner nachgerade goettlichen Mission - der urspruengliche Name der Operation lautete "Grenzenlose Gerechtigkeit" - aktiv zu beteiligen, sollten vielleicht ein paar Dinge geklaert werden. Fuehrt Amerika Krieg gegen den Terror in Amerika oder gegen den Terror ganz allgemein? Was genau wird geraecht?

Der tragische Verlust von fast siebentausend Menschenleben, die Vernichtung von vierhundertfuenfzigtausend Quadratmetern Bueroflaeche in Manhattan, die Zerstoerung eines Fluegels des Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplaetzen, der Bankrott einiger Fluggesellschaften und der Absturz der New Yorker Boerse? Oder geht es um mehr?
 

Als Madeleine Albright, die ehemalige Aussenministerin der Vereinigten Staaten, im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, dass 500 000 irakische Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien, sprach sie von einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei, alles in allem, nicht zu hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind uebrigens noch immer in Kraft, und noch immer sterben Kinder. Genau darum geht es: um die willkuerliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen "Ermordung

unschuldiger Menschen" oder "Krieg der  Kulturen" und "Kollateralschaeden".
Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser Gerechtigkeít: Wie viele tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Wie viele tote Afghanen fuer jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen und Kinder fuer einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin fuer einen totenInvestmentbanker?

Eine Koalition der Supermaechte der Welt schliesst nun einen Ring umAfghanistan, eines der aermsten und am staerksten verwuesteten Laender der Welt, dessen Taliban-Regierung Usama Bin Ladin Unterschlupf gewaehrt. Das einzige, was in Afghanistan ueberhaupt noch zerstoert werden koennte, sind die Menschen.

(Darunter eine halbe Million verkrueppelte Waisenkinder. Es wird berichtet, dass es zu wildem Gedraengel der Humpelnden kommt, wenn ueber entlegenen, unzugaenglichen Doerfern Prothesen abgeworfen werden.)
Die afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhoefen sind Massengraeber geworden. Das Land ist uebersaet mit Landminen - nach juengsten Schaetzungen zehn Millionen. Eine Million Menschen sind aus Furcht vor einem amerikanischen Angriff zur pakistanischen Grenze geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel mehr, Hilfsorganisationen mussten das Land verlassen, und nach Berichten der BBC steht eine der schlimmsten humanitaeren Katastrophen der juengsten Zeit bevor.
 

An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika uebrigens in nicht geringem Masse beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen Invasion, begannen die CIA und der pakistanische Militaergeheimdienst ISI die groesste verdeckte Operation in der Geschichte der CIA. Beabsichtigt war, den afghanischen Widerstand zu steuern und das islamische Element so weit zu staerken, dass sich die muslimischen Sowjetrepubliken gegen das kommunistische Regime erheben und es am Ende destabilisieren wuerden. Diese Operation sollte das Vietnam der Sowjetunion sein. Im Laufe der Jahre rekrutierte und unterstuetzte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus vierzig islamischen Laendern fuer den amerikanischen Stellvertreterkrieg. Diese Leute wussten nicht, dass sie ihren Dschihad fuer Uncle Sam fuehrten. (Welche Ironie, dass die Amerikaner ebensowenig wussten, dass sie ihre spaeteren Feinde finanzierten!)

 

Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurueck und hinterliessen ein verwuestetes Land. Der Buergerkrieg in Afghanistan tobte weiter. Der Dschihad griff ueber nach Tschetschenien, in das Kosovo und schliesslich nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin Geld und Waffen, doch die laufenden Kosten waren so enorm, dass immer mehr Geld benoetigt wurde. Auf Befehl der Mudschahedin mussten die Bauern Opium (als "Revolutionssteuer") anbauen. Der ISI richtete in Afghanistan Hunderte von Heroinlabors ein, und zwei Jahre nach dem Eintreffen der CIA war das pakistanisch-afghanistanische Grenzgebiet der weltweit groesste Heroinproduzent geworden. Die jaehrlichen Gewinne, zwischen einhundert und zweihundert Milliarden Dollar, flossen zurueck in die Ausbildung und Bewaffnung von Militanten.
Im Jahr 1995 kaempften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte von gefaehrlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert wurden sie vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstuetzung vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen erstes Opfer die eigene Bevoelkerung war, vor allem Frauen. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafuer, dass sich das Regime durch Kriegsdrohungen einschuechtern liesse oder einlenken wird, um die Gefahr fuer die Zivilbevoelkerung abzuwenden. Kann es nach allem, was passiert ist, etwas Ironischeres geben, als dass Russland und Amerika mit vereinten Kraeften darangehen wollen, Afghanistan abermals zu zerstoeren?
 

Auch Pakistan, Amerikas treuer Verbuendeter, hat enorm gelitten. Die amerikanischen Regierungen haben noch stets Militaerdiktatoren unterstuetzt, die kein Interesse an demokratischen Verhaeltnissen im Land hatten. Vor dem Auftauchen der CIA gab es einen kleinen laendlichen Markt fuer Opium. Zwischen 1979 und 1985 stieg die Zahl der Heroinsuechtigen von Null auf anderthalb Millionen an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben drei Millionen afghanische Fluechtlinge. Die pakistanische Wirtschaft liegt darnieder. Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte Transformationsprozesse und Drogenbosse zerreissen das Land. Die Madrasas und Ausbildungslager fuer Terroristen, urspruenglich eingerichtet zum Kampf gegen die Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan grossen Rueckhalt haben. Die Taliban, von der pakistanischen Regierung seit Jahren unterstuetzt und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle und strategische Verbuendete. Auf einmal bittet (bittet?) Amerika die pakistanische Regierung, den Schosshund, den es in seinem Hinterhof jahrelang grossgezogen hat, abzustechen. Praesident Musharraf, der den Amerikanern Unterstuetzung versprochen hat, koennte sich bald mit einer buergerkriegsaehnlichen Situation konfrontiert sehen.

Indien kann von Glueck reden, dass es, dank seiner geographischen Lage und der Weitsicht frueherer Politiker, bislang nicht in dieses Great Game hineingezogen wurde. Unsere Demokratie haette das hoechstwahrscheinlich nicht ueberlebt. Heute muessen wir entsetzt mit ansehen, wie die indische Regierung die Amerikaner instaendig darum bittet, ihre Operationsbasis in Indien statt in Pakistan zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit einer schwachen Wirtschaft und einem unruhigen sozialen Fundament muesste wissen, dass eine
Einladung an eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten (ganz gleich, ob die Amerikaner fuer laenger bleiben oder nur kurz vorbeischauen wollen) fast so ist, als wuerde ein Autofahrer darum bitten, ihm einen Stein in die Windschutzscheibe zu werfen

.
In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der grossen Fernsehsender fuer noetig, ein Wort ueber die Geschichte des amerikanischen   Engagements in Afghanistan zu verlieren. Fuer all jene, die von diesen Dingen nichts wissen, haette die Berichterstattung ueber die Anschlaege informativ und aufruettelnd sein koennen, wenn Zyniker sie vielleicht auch uebertrieben gefunden haetten. Fuer uns aber, die wir die juengste Geschichte Afghanistans kennen, sind die amerikanische Berichterstattung und das Gerede von der
"internationalen Allianz gegen den Terror" einfach eine Beleidigung.
Amerikas "freie Presse" ist dafuer genauso verantwortlich wie der "freie Markt".

Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung amerikanischerWerte durchgefuehrt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in der ganzen Welt erzeugen, und am Ende duerften diese Werte voellig diskreditiert sein. Fuer die gewoehnlichen Amerikaner bedeutet das, dass sie in einem Klima schrecklicher Ungewissheit leben werden. Schon warnt CNN vor der Moeglichkeit eines
biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand), der mit harmlosen Spruehflugzeugen gefuehrt werden kann.

Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen ueberall auf der Welt, werden die Kriegsatmosphaere als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere Buergerrechte einzuschraenken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und religioese Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen und viel Geld in die Militaerindustrie zu stecken. Und wozu? Praesident Bush kann die Welt ebensowenig "von Uebeltaetern befreien", wie er sie mit Heiligen bevoelkern kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung auch nur mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus liesse sich mit noch mehr Gewalt und Unterdrueckung ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit. Der Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist ein supranationales, weltweit taetiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi oder Nike. Beim  geringsten Anzeichen von Schwierigkeiten brechen Terroristen die Zelte ab und ziehen, genau wie die Multis, auf der
Suche nach besseren Moeglichkeiten mit ihren "Fabriken" von Land zu Land.

 

Der Terrorismus als Phaenomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm aber Einhalt gebieten, muss Amerika zunaechst einmal erkennen, dass es nicht allein auf der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit anderen Menschen, die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben und trauern und Geschichten und Lieder und Kummer haben und weiss Gott auch Rechte. Doch als der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gefragt wurde, was er als einen Sieg im neuen amerikanischen Krieg bezeichnen wuerde, meinte er, ein Sieg waere, wenn er die Welt davon ueberzeugen koenne, dass es den Amerikanern moeglich sein muesse, an ihrem way of life festzuhalten.

Die Anschlaege vom 11. September waren die monstroese Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft koennte, wer weiss, von Usama Bin Ladin stammen und von seinen Kurieren uebermittelt worden sein, aber sie koennte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen.

Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als Israel (mit Unterstuetzung Amerikas) 1982 im Libanon inmarschierte, die 200 000 Iraker, die bei der Operation Wuestensturm starben, die Tausenden Palaestinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands den Tod fanden. Und die Millionen, die in Jugoslawien, Somalia, Haiti, Chile, Nicaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und Massenmoerdern, die
amerikanische Regierungen unterstuetzt, ausgebildet, finanziert und mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzaehlung ist keineswegs vollstaendig. Fuer ein Land, das an so vielen Kriegen und Konflikten beteiligt war, hat Amerika ausserordentlich viel Glueck gehabt. Die Anschlaege vom 11. September waren erst der zweite Angriff auf amerikanischem Territorium innerhalb eines Jahrhunderts. Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche dafuer endete, nach einem langen Umweg, mit Hiroshima und Nagasaki. Heute wartet die Welt mit angehaltenem Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.

 

Unlaengst sagte jemand, dass, wenn es Usama Bin Ladin nicht gaebe, die Amerikaner ihn erfinden muessten. In gewissem Sinne haben sie ihn tatsaechlich erfunden. Er gehoerte zu den Kaempfern, die 1979 nach Afghanistan gingen, als die CIA mit den Operationen begann. Usama Bin Ladin zeichnet sich dadurch aus, dass er von der CIA hervorgebracht wurde und vom FBI gesucht wird. Binnen zweier Wochen avancierte er vom Verdaechtigen zum Hauptverdaechtigen, und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels an Beweisen, "tot oder lebendig" haben.

Nach allem, was ueber seinen Aufenthaltsort bekannt ist, koennte es durchaus moeglich sein, dass er die Anschlaege nicht persoenlich geplant hat und an der Ausfuehrung auch nicht beteiligt war - dass er vielmehr der fuehrende Kopf ist, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Die Reaktion der Taliban auf die amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern, war ungewoehnlich realistisch:
Legt Beweise vor, dann haendigen wir ihn euch aus. Praesident Bush erklaerte seine Forderung fuer nicht verhandelbar. (Da gerade ueber die Auslieferung von Vorstandsvorsitzenden gesprochen wird - duerfte Indien ganz nebenbei um die Auslieferung von Warren Anderson bitten? Der Mann war als Chef von Union Carbide verantwortlich fuer die Katastrophe von Bhopal, bei der sechzehntausend Menschen umkamen. Wir haben die noetigen Beweise zusammengetragen, alle Dokumente liegen vor. Also gebt ihn uns bitte!)

 

Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich moechte es anders formulieren:
Was ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der dunkle Doppelgaenger des amerikanischen Praesidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schoenen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Aussenpolitik verwuestet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekuemmerte Politik der unumschraenkten Vorherrschaft, ihre kuehle Missachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militaerinterventionen, ihre Unterstuetzung fuer despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Laender gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken.

Nun, da das Familiengeheimnis gelueftet ist, werden die Zwillinge allmaehlich eins und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen haben sich eine Zeitlang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die amerikanischen Hubschrauber begruessen werden, wurden von der CIA geliefert. Das Heroin, das von amerikanischen Rauschgiftsuechtigen verwendet wird, stammt aus Afghanistan. Die Regierung Bush liess der afghanischen Regierung unlaengst 43 Millionen Dollar zur Drogenbekaempfung zukommen.) Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer aehnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als "Kopf der Schlange". Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erloesungsrhetorik von Gut und Boese zurueck. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide sind gefaehrlich bewaffnet – der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszoen Maechtigen, der andere mit der gluehenden, zerstoererischen Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispickel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, dass der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.

Praesident Bushs Ultimatum an die Voelker der Welt - "Entweder ihr seid fuer uns, oder ihr seid fuer die Terroristen" - offenbart eine unglaubliche Arroganz. Kein Volk will diese Wahl treffen, kein Volk braucht diese Wahl zu treffen und keines sollte gezwungen werden, sie zu treffen.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.

 

Nicht Salman Rushdie, sondern die vierzigjaehrige Arundhati Roy ist die literarische Stimme Indiens, die von den Taten und Qualen der Globalisierung in ihrem Land berichtet. Roy ist laengst die beruehmteste und erfolgreichste Schriftstellerin des Landes. In vielen westlichen Laendern gilt sie als wichtigste Schriftstellerin des Subkontinents. Als politische Aktivistin ist Roy wiederholt in Konflikt mit den indischen Behoerden geraten, zuletzt wegen ihrer Proteste gegen die indische Atomwaffenpolitik. In ihren politischen Schriften artikuliert sich das radikale Bewusstsein jener intellektuellen Schicht, die nicht nur in Indien, sondern auch in Pakistan die sozialen Konflikte primaer als Folgen der Globalisierung, also als Ergebnisse "westlicher" Politik interpretiert. Ungeachtet der besonnenen amerikanischen Politik sind im Atomguertel Pakistan/Indien viele Menschen voller Wut auf die Vereinigten Staaten und die Kultur der Globalisierung. Wer angesichts des Terroranschlags von New York glaubte, es werde sich eine moralisch empoerte Menschheit um die Amerikaner scharen, sieht sich getaeuscht. Im Gegenteil: der Hass waechst. Und Indien hat sich immer noch nicht erklaert, inwieweit es bereit ist, die Vereinigten Staaten zu unterstuetzen. Wir haben Arundhati Roy gebeten, uns zu sagen, warum das so ist. Ihr Text, der angesichts der fortlaufenden Ereignisse die urspruenglich vereinbarte Laenge weit ueberschreitet, beweist, allen Besaenftigungsformeln zum Trotz, dass der gegenwaertige Konflikt in den bevoelkerungsreichsten Staaten der Erde als Krieg der Kulturen verstanden wird.
F.A.Z.

 

Die Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele Tote sind notwendig, damit es
besser zugeht auf der Welt?

Usama Bin Ladin ist das amerikanische Familiengeheimnis, der dunkle Doppelgaenger des amerikanischen Praesidenten.

ARUNDHATI ROY wurde 1960 im suedindischen Bundesstaat Kerala in einer Familie syrischer Christen geboren. Ihr Vater war ein Hindu aus Bengalen. Heute lebt sie in Neu Delhi. 1996 erschien ihr Roman "Der Gott der kleinen Dinge" (Blessing Verlag), der zu einem Welterfolg wurde. Die indischen Behoerden zensierten das Buch aus "moralischen" Gruenden: Roy beschrieb die verbotene Liebe zu einem Unberuehrbaren. Als politische Aktivistin hat sie sich mehrfach massiv mit der indischen Regierung angelegt. Was sie soziologisch zur repraesentativen Stimme macht, ist die Tatsache, dass sie die
Globalisierung wie einen wirklichen Schmerz, den man ihr zufuegt, zu erleben scheint. "In Indien", so hat sie einmal erklaert, "erlebe ich das entsetzliche Schuldgefuehl privilegiert zu sein."

F.A.Z.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2001
 

 

Gastkommentar | 27.09.01 | www.DiePresse.at

Die neue Weltunordnung

Friede wird nur einkehren, wenn Israel die UN-Resolutionen auf Punkt und Beistrich erfüllt. Der Autor lehrte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Wien, Graz und Aachen.War Andreas Hofer der Tiroler Osama bin Laden in Mini-Ausgabe, Terrorist oder Freiheitskämpfer? Die Antwort hängt von der Seite ab, auf der man steht.
George Bush senior wollte die Neue Weltordnung herbeibomben, sein Sohn bekommtsie jetzt in Form der Weltsolidarität gegen den Terrorismus. Er will die Terroristen "jagen" und die Staaten, die ihnen Schutz gewähren, bekriegen. Doch er kommt zu spät. Seine Strategie haben die Selbstmordattentäter vorauseilend umgesetzt. Für sie ist Amerika der Schutzherr des seit einem halben Jahrhundert verübten, israelischen Staatsterrors, der Zehntausenden das Leben kostete.

Die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade Center, die Machtsymbole des Protektors sind die Antwort in der einzigen Sprache, die Amerika zu verstehen scheint: die Sprache der Gewalt, der Toten, des Terrors.

Es ist die Sprache der Neuen Weltunordnung, die Amerika die Welt gelehrt hat. Mit dem Aggressionskrieg gegen Restjugoslawien wurde das Völkerrecht gebrochen und durch das Faustrecht ersetzt. Der Irak wird noch zehn Jahre nach Kriegsende in einer Weise kujoniert, die unzähligen Kindern den Tod bringt.
Saudiarabien bleibt von amerikanischen Truppen besetzt, um eine korrupte Palastclique zu schützen und die Ölvorkommen ungeniert "stehlen" zu können.
Der Raub wird heute mit Papieren und Guthaben ("Petro-Dollars") bezahlt, die morgen nach dem sich abzeichnenden Umsturz "eingefroren" und enteignet werden. Das Chaos der Neuen Weltordnung ist vorprogrammiert. Allein die Sprache ist entlarvend. Es ist die Sprache eines impotent gewordenen Riesen, der mit Bambusstöcken aus Vietnam vertrieben wurde und in der Schweinebucht seine Zähne verlor. Ihm will nicht in seinen Kopf, daß es Menschen gibt, die für die Unabhängigkeit ihres Landes ihr Leben einsetzen. "Heißes Denken" ist nicht seine und unsere Sache, wie Rüdiger Safranski kürzlich anmerkte. Wir sind "bestechlich" geworden, Ökonomismus und Konsumismus sind unsere Religion.
Für sie stirbt es sich schlecht, und wenn, dann nur gegen gute Bezahlung.
Doch noch gibt es "die anderen". Eine Woche vor dem Anschlag wird in "Zur Zeit" der Naturwissenschaftler und Humanist Erwin Chargaff, ein weiser Jude, mit den Worten zitiert: "Es gibt inbrünstige Islamisten, die sich mit Selbstmordbomben in die Luft sprengen - ist das nicht phantastisch?" Wer nicht für sein Recht auf Heimat kämpft, hat es bereits verloren.
Aussicht auf Beendigung der Terroranschläge wird es nur geben, wenn in Palästina die UN-Resolutionen auf Punkt und Beistrich erfüllt werden, der geraubte Boden zurückgegeben wird, die Vertriebenen in ihre Heimat und ihre Häuser zurückkehren können, der Irak in die Völkergemeinschaft wieder aufgenommen wird, die militärische Besatzung Saudiarabiens beendet wird und die Art und Weise der Islamisten, ihre Lebensweise nach religiösen Vorschriften zu regeln und ihre Staaten durch Mullahs zu regieren, respektiert wird.

 

"Interventionen"
in souveränen Staaten durch die USA und ihre (Geheim-)"Dienste", das Aufwiegeln der unterschiedlichen Gruppen, damit sie sich gegenseitig umbringen, müssen beendet werden. Terror mit Gegenterror zu beantworten, führt jedenfalls nicht zum Frieden, sondern zur Eskalation der Gewalt.
Opus iustitiae pax: Friede ist das Werk der Gerechtigkeit. Stehen wir wieder einmal auf der falschen Seite? Betroffenheit sollte uns nicht blind machen.
Die Presse | Wien

 


Die Presse.at
Erscheinungsdatum: 22.09.2001 Ressort: Außenpolitik

Das Ende des Terrors gegen die USA?

GASTKOMMENTAR VON TAREK SHOUSHARI


Es ist unbestreitbar, daß die Terroranschläge, welche vorige Woche in den USA verübt wurden, die grausamsten in der Geschichte der Welt waren.

Tausende unschuldige Opfer haben ihr Leben durch diese schrecklichen Anschläge verloren. Deshalb muß man sie aufs schärfste verurteilen! Die Frage ist, was will und muß die USA jetzt dagegen tun? Vielleicht in einigen Stunden oder Tagen wird die amerikanische Vergeltung beginnen. Dazu braucht Amerika unbedingt die Hilfe von Pakistan, dem Nachbarstaat von Afghanistan. Deswegen suchen inzwischen beide Staaten nach allen Mitteln der Zusammenarbeit. Da Afghanistan ein Land ist, in dem es für jede fremde Armee besser ist, nicht lange zu
bleiben, wird wahrscheinlich die Militäroperation der USA in Afghanistan theoretisch nur drei Tagen bis eine Woche lang dauern. Zehntausende amerikanische Soldaten werden von Pakistan aus das afghanische Land stürmen und alle Taliban- sowie Bin Laden- Milizen stellen, zerstören, bis sie Osama bin Laden und seine Helfer verhaften oder töten. Solche Aktionen sind jetzt in den USA gefragt, trotzdem sollte man sich gut überlegen, ob eine Vergeltung in dieser Form richtig ist. Bis jetzt gibt es keine echten Beweise, daß Osama bin Laden oder jemand, der in Afghanistan lebt, in Beziehung zu den Terroranschlägen in New York und Washington steht. Die Ermittlungen über das, was in New York und Washington passiert ist, brauchen eigentlich Monate bis Jahre. Deshalb wird jeder amerikanische Vergeltungsschlag gegen Afghanistan, der jetzt und ohne jeglichen Beweis durchgeführt wird, in der ganzen Arabischen und Islamischen Welt als Krieg gegen den Islam und alle Muslimen der Welt gesehen werden. Es ist sehr wichtig zu wissen, daß viele Intellektuelle, aber auch ganz normale Leute
in der islamischen Welt, vor allem in den arabischen Staaten, zutiefst glauben, daß die USA hinter zahlreichen diktatorischen und korrupten arabischen Regierungen steht. Zum Beispiel hat die arabische Welt derzeit Schulden von über dreihundert Milliarden US-Dollar, und die Bevölkerung der meisten arabischen Länder lebt trotz Ölreichtum in tiefster Armut. Dies, obwohl es Einnahmen von rund fünfhundert Milliarden US-Dollar gibt. Die jeweiligen Regierungen legen aber diese Einnahmen aus dem Ölgeschäft wiederum in den westlichen Banken, vor allem in den USA, an, anstatt sie im eigenen Land zu investieren. Genau hier entsteht der Haß und die antiamerikanische Einstellung in der ganzen islamischen Welt.

 

Wenn nun die USA ihre Vergeltung gegen Afghanistan ohne richtige Beweise durchführen, gleichzeitig mehr und mehr Haß und Mißverständnis in den westlichen Ländern gegen islamische Länder entsteht - vor allem durch Leute, welche nicht bereit sind, über die Ursachen des Konfliktes nachzudenken und statt dessen sich von der antiislamischen Propaganda beeinflussen lassen - entsteht wieder die Situation eines Krieges der verschiedenen Kulturen, was für beide Seiten katastrophal ist.

 

Die Vereinigten Staaten haben natürlich völlig recht, ihre Staatsbürger und sich mit allen Mitteln gegen solche Anschläge zu schützen. Trotzdem müssen sie sich ernsthaft fragen, warum Amerika von solchen Terroranschlägen betroffen ist. Warum gibt es Leute, die bereit sind, ihr Leben zu opfern, um einen blutigen Anschlag gegen Amerika zu verüben? Was ist falsch an der amerikanische Innen- und Außenpolitik? Osama bin Laden zu töten oder zu verhaften wird den USA sicher helfen, von einem Feind endlich Ruhe zu haben. Damit wird Amerika aber nicht wirklich von einem Ende der Terroranschläge gegen sich reden können. Es wird immer wieder solche Leute wie Bin Laden geben, die sich als Feind der USA definieren. Deshalb sind Politikexperten und viele andere Personen in der arabischen und westlichen Welt der Meinung, daß eine wirkliche und endgültige Lösung für Terroraktionen gegen die Vereinigten Staaten von Amerika - wir reden hier über den Terror, der von außen kommt - nur dann möglich ist, wenn die Außenpolitik von Amerika, vor allem im Nahen Osten, endlich neutral ist. Nicht mehr blinde Unterstützung für Israel auf Kosten der Palästinenser, deren Leben und Freiheit. Dann wird sich die antiamerikanische Einstellung in Freundschaft wandeln.

Der Autor ist Mediensprecher der Palästinensischen Gemeinde in Österreich.