WAS ist POLITISCHER ISLAM?

 

Eine Frage von Schweizer Nichtmuslimen an die Muslime. Eine Frage, welche offenbar die Gesellschaften interessiert.

Nicht leicht zu beantworten ist sie überdies, gilt es doch als allgemeines Wissensgut:

"Der Islam trennt nicht Religion von Politik". Also kann es eigentlich nur politischen Islam geben, oder nicht?

 

An dieser Stelle soll nun dieser Frage aus muslimischer Sicht, aber auch aus der Sicht jener nachgegangen werden, die als Nichtmuslime herrlich definieren, was unter "politischem Islam" zu verstehen sei.

 

Beginnen wir mit einer Recherche im Netz: http://hpd.de/node/6849

Ein Buch, ein Titel: Handlungsstrategien des politischen Islamismus.

Der Sammelband, Politischer Islam im Vorderen Orient. Zwischen Sozialbewegung, Opposition und Widerstand“ enthält allgemeine Analysen und Länderstudien zur Entwicklung des Islamismus.

 

Ohne lange auf Einzelheiten und den diffusen Gerbrauch unklar, mehrdeutig definierter Begriffe einzugehen, wird sofort klar und ersichtlich, WIE gedacht, WIE publiziert wird:

Politischer Islam entwickelt den ISLAMISMUS. Man spricht über "politischen Islam" und meint "Islamismus". Man spricht über Islamismus und meint Islam (politisch oder nicht – aber eigentlich schon ...).

 

In obigem Artikel (siehe Link) heißt es dann weiter:

Islamisten sind nicht als Akteure sui generis zu begreifen; vielmehr sind sie rationale Akteure, die zwar ihren ideologischen Bezugspunkt in der Religion des Islam finden, unter anderen Aspekten aber durchaus mit ideologisch anders ausgerichteten Gruppen vergleichbar sind." "Dies gilt insbesondere für die Deutung des Islamismus als soziale Bewegung, die sich sowohl gegen autoritäre Herrschaft wie gesellschaftliche Probleme richtet."

 

Hier bekommen wir das nächste Stichwort, "ideologisch".

Nicht finden die Islamisten ihren theologischen Bezugspunkt in der Religion, sondern ihren ideologischen. Damit sollte man doch arbeiten können.

 

In Wikipedia finden wir zum Stichwort Ideologie:

Der Ausdruck Ideologie (griechisch δεολογία – Lehre von der Idee bzw. Vorstellung, von gr. δέα (idea), Erscheinung, und λόγος (logos), Lehre) hat zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen[1]:

  • Als wertfreier Begriff ist Ideologie „die allen politischen Bewegungen, Interessengruppen, Parteien, aber auch Konzepten immanente“ Summe der jeweiligen Zielvorstellungen (siehe Politische Ideologie)
  • der insbesondere von Karl Marx geprägte Ideologiebegriff betrachtet Ideologie als „Gebäude, das zur Verschleierung und damit zur Rechtfertigung der eigentlichen Machtverhältnisse dient“, ein sogenannter Überbau

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Ideologie ein System von Ideen, Vorstellungen, Werturteilen und Begriffen und kann synonym zu „Weltanschauung“ Verwendung finden.

 

Zum wertfreien Begriff:

Wenn eine Gruppe, welche gleiche (religiöse, moralische, wirtschaftliche, etc.) Interessen teilt, als Interessensgruppe angesehen werden kann – und zweifellos kann die Gemeinschaft der Muslime als solch eine Interessensgruppe angesehen werden, auch wenn ihre Vorstellungen, WIE diese Interessen im Speziellen ausgeprägt sein mögen (Rechtsschulen) oder WER sie umzusetzen hätte (Schiiten/Sunniten) so KÖNNEN die Muslime von NICHTMUSLIMEN als ideologische Gruppe in westlichem Sinne und Sprachgebrauch definiert werden. (Gleichwohl Muslime sich selbst nicht als ideologische Gruppe definieren, weil der Unterschied zwischen Religion und Ideologie, das Fehlen eines transzendenten Elements in letzerem ist.)

Somit wird der Islam vom Westen STETS mit Ideologie verbunden werden und somit zwangsläufig mit ISLAMISMUS vermengt und gedeutet werden (müssen). Für weitere detailliertere Ausführung siehe:

ISLAM - ISLAMISMUS - FUNDAMENTALISMUS - TERROR, eine Assoziationskette - fatal & ununterbrochen 

Hier noch zu POLITIK & ISLAM ein kurzer Artikel von mir aus 1997 (aktueller denn je …)

 

(Sowohl  Muslime als auch Nichtmuslime wären  jedoch hier aufgefordert,  zu unterscheiden zwischen Islam als dem ewigen und unveränderbaren Glaubenssystem (Din) Allahs einerseits und den Reaktionen der Muslime  innerhalb einer politischen Welt andererseits, welche gewachsen ist aus kolonialistischen Eroberungen, dem kapitalistischen Marktwirtschaftssystem  (kurz der Globalisierung) sowie dem gesamten ideologischen „Überbau“ (Marx), der jener „modernen Welt“ zu eigen ist und der seine Wurzeln ausschließlich im Westen als treibender Kraft dieser Moderne hat. Es ist dies eine subtile Unterscheidungsarbeit und analytische Feinarbeit,  die jedoch unbedingt nötig ist, um auf beiden Seiten einen klaren und weniger emotionsgeladenen Standpunkt  einzunehmen. )

 

Zum Marx'schen  Ideologie Begriff:

Da den Muslimen unterstellt wird (und teilweise glauben tatsächlich auch bestimmte Muslime daran), dass Ihnen die Weltherrschaft zu erringen aufgetragen ist – so wird der Islam, resp. das Betragen d(ies)er Muslime pauschal auch mit diesem Begriff assoziiert. Dies umso mehr, als im Marx'schen Sinne die Religion ohnehin Opium – also Rauschmittel für das Volk ist, welches ihnen von einer machtgierigen Priesterschaft eingegeben wird, um die Gläubigen von dieser Kaste abhängig zu machen.

 

An dieser Stelle muss nun die Frage erlaubt sein: Hat sich schon mal jemand Gedanken darüber gemacht, warum man im Islam KEINE Priesterschaft kennt (selbst wenn der schiitische Islam im Iran diesen Anschein erwecken könnte)?

 

Und gleich eine weitere Frage:

Ist es wirklich nicht klar, dass dieses, "unser" Ideologieverständnis aus westlicher, christlicher, historisch entwickelter Denkungsart entspringt und mit islamischem Denken längst nicht vollumfänglich kompatibel ist?

 

Und als dritte Frage:

Warum kann solch "paralleles" Denken nicht als Segen, als komplementärer Beitrag zur Gestaltung der Einheit in der Vielfalt verstanden werden?


Weil vielleicht das "Heil" in autoritärem Einparteiensystem (oder anders benannt, in der ONE-WORLD ORDER) gefunden werden will?

 

Ich will hier noch kurz an Beispielen aus dem heiligen Qur’an erläutern, dass es tatsächlich NICHT religiöser Auftrag im Islam, d.h. für die Muslime ist, die Weltherrschaft zu erringen, sondern in seinem Einflussgebiet soziale Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen.

 

Die erste qur'anische Erklärung dazu lautet:

Und Gott wird gewiss jenem zum Sieg verhelfen, der für Seinen Sieg eintritt. Gott ist wahrlich Allmächtig, Erhaben. [22:40]

 

Die meisten Menschen, selbstverständlich darunter auch Muslime, haben ganz allgemein ein sehr oberflächliches Verständnis und verstehen den obigen Vers lieber als:

Und Gott wird gewiss jenem zum Sieg verhelfen, der für seinen Sieg eintritt. Gott ist wahrlich Allmächtig, Erhaben. [22:40]

 

Ein nicht zu hörender, fast nicht zu bemerkender Unterschied, aber vollständig konträr in der Bedeutung!

Es geht im Qur'an eben nicht darum, dass die MUSLIME (als Menschen und Machtausübende die Herrschaft, den SIEG erringen, sondern Gott!

 

Was kann dann damit gemeint sein, wenn Gott doch ohnehin als allmächtig verstanden wird?

Wie sollte der Mensch dazu beitragen, GOTT zu Seinem Sieg zu verhelfen?

 

Natürlich durch nichts anderes, als durch die Anerkennung der RELIGION Gottes, ders ISLAM als GÜLTIG, als ECHT.

Das ist schon alles.

Der Sieg Gottes ist dann erreicht, wenn es als rechtmäßig gilt, an IHN aus FREIEN STÜCKEN glauben zu dürfen, sowie sein Leben und Handeln nach Seinen Geboten ausrichten zu dürfen. Wenn es nicht nur als rechtmäßig gilt, an IHN nach christlicher oder jüdischer Facon zu glauben oder nach atheistischer Weise nicht an Gott zu glauben, sondern eben auch nach muslimischem Auffassung und islamischem Selbstverständnis, in Ruhe, in Frieden, zum Wohle von Gottes Schöpfung.

Nicht einmal dominant muss der Islam daher als befolgte Religion sein (siehe weiter unten 22:39-40)!

Es bedarf absolut keiner weltumspannenden Dominanz des Islam, damit Islam für sich bestehen kann – und ein anerkanntes Gegenüber darstellen kann.

 

Der Islam und die Muslime müssen als zugelassene Partner, Konkurrenten im Wettlauf um das GUTE anerkannt sein und wahrgenommen werden. Dass diese Anerkennung in der heutigen Welt tatsächlich nicht gegeben ist, bedarf wohl nicht näherer Erläuterung. Als kleiner Hinweis möge genügen: Im Islam sind alle christlichen und jüdischen theologisch relevanten Persönlichkeiten als solche theologisch anerkannt. Muhammad (Friede mit ihm) im Gegensatz dazu bei den Juden und Christen bestenfalls als Feldherr, aber vielmehr als Räuber und machtbesessener Epileptiker.

 

Und zweitens:

Der entscheidende Vers, der von den Verfechtern der Islam Weltherrschaftsübernahme Verschwörungstheorie zitiert wird, lautet:

"Und kämpft gegen sie, bis es keine Verwirrung (mehr) gibt und die Religion Allah gehört" [2:193]

nach der Lesart von Muhammad ASAD und meiner Übersetzung, kann die Bedeutung auch wie folgt wiedergegeben werden:

Dennoch, kämpfet gegen sie, bis es keine Unterdrückung mehr gibt und aller Gottesdienst Gott alleine gewidmet ist;[1] wenn sie allerdings davon abstehen, soll alle Feindseligkeit ruhen, außer gegen jene, die absichtlich Unrecht tun.

Wobei Unterdrückung einerseits die Unterdrückung der Wahrheit, die Verdrehung der Wahrheit meint, wodurch völlige Orientierungslosigkeit, also Verwirrung entsteht, wie auch Unterdrückung als Machtausübung gegenüber anderen Menschen, welche sich dieser Macht durch freiwillige Anerkennung nicht beugen mögen.

 

Und weiters das Wort, "Gott alleine gewidmet ist", doch so zu verstehen ist, dass alleine Gott es verdient, verehrt, angebetet und gedient zu werden, Der doch sagt:

ERLAUBNIS [zu kämpfen] ist jenen gegeben, gegen welche unrechtmäßigerweise Krieg geführt wird[2] - und, wahrlich, Gott hat wirklich die Macht sie zu besiegen -: jenen, welche aus ihren Heimatländern gegen jegliches Recht vertrieben wurden, aus keinem anderen Grund, als weil sie sagen, "Unser Erhalter ist Gott!" Denn, hätte Gott die Leute nicht ermächtigt sich gegen andere zu verteidigen,[3] wären [alle] Klöster und Kirchen und Synagogen und Moscheen – in [all] denen Gottes Name reichlich hoch gelobt wird – [schon] zerstört worden.  [22:39-40]

 

Womit eindeutig klar gemacht ist, dass es NICHT um die MUSLIME und deren VORHERRSCHAFT geht, sondern um das GEDENKEN GOTTES und darum, die menschliche Aggression  als solche im Zaum zu halten!

 

Und weiter an anderer Stelle:

Und wenn Gott es den Menschen (nicht steht hier "Muslimen") nicht ermöglichte, sich vor einander zu verteidigen, hätte sicherlich Verderben die Welt überkommen: doch Gott ist gegenüber allen Welten grenzenlos in Seiner Güte. [2:251]

Auch dieser Vers macht unmissverständlich klar, dass es NICHT Auftrag der Muslime sein KANN, die Weltherrschaft anzustreben, sondern dass ihr Auftrag in der Befolgung des prophetischen Vorbilds  lautet:

O Prophet, Wir haben dich als einen Zeugen, als Bringer froher Botschaft und als Warner entsandt. [33:45]

Und noch viel deutlicher und eindeutig:

Und sprich: "Die Wahrheit [ist nun] von eurem Erhalter [gekommen]: lass ihn, der will, daran glauben, und lass

ihn, der will, sie ablehnen." [18:29]

und in 27:92 heißt es:

... Wer also dem rechten Weg folgt, der folgt ihm nur zu seinem eigenen Besten; (wenn) er irregeht, so sprich

„Ich bin nur einer der Warner.“


Damit sollte ausreichend klar und deutlich gemacht sein, dass der göttliche AUFTRAG an die Muslime nicht lautet, die WELTHERRSCHAFT zu erringen – also POLITISCH (mit allen damit verbunden machiavellischen Konsequenzen) zu agieren, sondern religiös zur Entwicklung, Befreiung und Entfaltung der menschlichen  Spiritualität zu wirken hat. Womit gemeint ist, die frohe Botschaft zu verkünden, das moralisch GUTE zu gebieten, gleichermaßen das VERWERFLICHE zu verbieten und dabei dem Menschen jenen Freiraum zu schaffen, innerhalb welchem es ihm aus eigenem, freiem Antrieb heraus möglich ist, seine ursprüngliche, geschöpfliche Beziehung  zum Schöpfer zu erkennen und zu pflegen.

 

Dem Muslim liegt es fern, andere Menschen – unbedingt – am Heil, an der „Erlösung“ teilhaben lassen zu müssen und ihn mit mehr oder weniger Gewalt "heim ins Reich Gottes" zu führen.

Da aber westliches Denken seit vielen hundert Jahren solches Denken und Verhalten pflegt, mag es den westlichen Gesellschaften einfach nicht gelingen, dieses Denkmuster anderen Menschen NICHT überzustülpen.

Daraus ergibt sich eine unheilvolle Spirale des Misstrauens, der Vereinnahmung, des Präventivschlags und der Vergeltung, des Eroberns und Rückeroberns.

All dies spielt natürlich auf POLITISCHER Ebene – über Territorialgrenzen, Verträge, Diplomaten, Armeen.

Der Muslim handelt aber selbst in dieser Hinsicht NICHT primär politisch, sondern einfach als Mensch, welcher die religiöse Erlaubnis von Gott hat, sich, sein Land, sein Eigentum, seine SELBSTSTÄNDIGKEIT gegen jedwede Aggression zu verteidigen und sich dabei ebenfalls natürlicherweise, politischer Instrumente zu bedienen.

 

Womit wir wieder bei obigem Zitat angelangt sind:

"Dies gilt insbesondere für die Deutung des Islamismus als soziale Bewegung, die sich sowohl gegen autoritäre Herrschaft wie gesellschaftliche Probleme richtet."

 

Gleiches gilt, wie einsichtig zu machen die Absicht war, eben auch für die Muslime und nicht nur für Islamisten, wie weisgemacht wird. Der Mensch, der Muslim, der Hindu, der Schweizer, die Yanomami  dürfen sich gegen autoritäre, ungerechte Herrschaft zur Wehr setzen und haben gesellschaftliche Probleme tatkräftig anzugehen und zu lösen.

WIE soll also der Muslim sich vom Verdacht reinwaschen können, KEIN ISLAMIST zu sein?

 

Nun zur  dritten WIKIPEDIA Erklärung zum Begriff IDEOLOGIE:

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Ideologie ein System von Ideen, Vorstellungen, Werturteilen und Begriffen und kann synonym zu „Weltanschauung“ Verwendung finden.

 

Niemals anders habe Muslime ihre Religion anders als eine WELTANSCHAUUNG verstanden.

Der ISLAM, der Din, die Lehre des ISLAM erlaubt den Menschen eine definierte Sicht auf das Diesseits und auf das Jenseits, auf Transzendentes und Immanentes, auf das Materielle, Emotionale, Geistige und Seelische. Diese Lehre, diese Anschauung erlaubt ihnen eine differenzierte, aber eben auch eine einheitliche – heute spricht man von holistischer – Sicht auf das Universum in und außerhalb des Menschen.

Ist der ISLAM deshalb eine IDEOLOGIE?

 

Wenn wir uns der westlichen Begrifflichkeit bedienen, ist dieser zwingenden Zuordnung nicht zu entkommen. Und deshalb ist der Konflikt zwischen den "Welten" unvermeidbar, wenn man diese Welten, diese, ja auch begrifflich verschiedenen Welten nicht NEBENEINANDER in FRIEDEN und GELASSENHEIT existieren und einander befruchten lässt.

 

Ich erinnere mich gerne an meine diesbezüglichen Diskussionen mit Dr. Ahmad Abdelrahimsai (Gott hab ihn selig), ob denn der Islam nun eine Ideologie wäre oder eben nicht, die ihn zu folgender Definition veranlasste:

ISLAM ist KEINE IDEOLOGIE sondern basiert auf religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Ordnung.

Mir gefällt an dieser Definition so gut, dass sie sich nicht auf eine alternative Definition einlässt und sagt: "der ISLAM ist …", sondern Abdelrahimsai ließ sich auf eine definitive, starre Definition – welche letztlich einem lebendigen, sich stets entwickelnden System NIE passend werden KANN – gar nicht ein, sondern bestimmte die Ordnung, im weitesten Sinn die Gott gegebene NATÜRLICHE Ordnung im Universum als kennzeichnendes Merkmal für den ISLAM.

 

Daher sei abschließend zu ISLAM – IDEOLOGIE gesagt:

Zu behaupten, der Islam wäre eine IDEOLOGIE führt in eine Sackgasse.

 

Viel richtiger aus islamischer, muslimischer Sicht und zielführender ist es, frei nach Zaid Shakir zu sagen:

Es gibt die wachsende Tendenz unter Muslimen und natürlich erst recht unter Nichtmuslimen, unsere grundlegenden, islamischen Texte politisch und nicht theologisch zu lesen. Solche Lesarten verschieben die Betonung unserer Religion vom Jenseits hin zu einer verzerrten Perspektive auf diese Welt.

Die politisierte Lesart unserer Texte kann als Teil einer wachsenden Tendenz verstanden werden, den Islam auf eine politische Ideologie zu reduzieren. Die Folgen eben jener Reduktion sind schwerwiegend. Vielleicht die schlimmste davon ist der Wechsel der Perspektive des Islam vom Geist oder der Seele und seine Neuausrichtung auf die Welt, wobei das Verständnis spiritueller Inhalte auf das bloß Materielle reduziert wird. Die Gründe, warum wir dieser Neuausrichtung Widerstand leisten sollten, werden deutlicher, wenn wir über das Wesen von Ideologien nachdenken. Der politische Philosoph, Roger Scruton, definiert eine Ideologie wie folgt: „Jede systematische und allumfassende politische Lehre, die beansprucht, eine komplette und allgemein anwendbare Theorie vom Menschen und der Gesellschaft anzubieten. Und daraus ein Programm des politischen Handelns ableitet.“

Ein Muslim könnte diese Definition lesen und der Ansicht sein, dass Islam in der Tat eine Ideologie sei, da er „eine komplette und allgemein anwendbare Theorie vom Menschen und der Gesellschaft“ darstellt. Jedoch ist der relevante Bereich für das Handeln und Denken einer Ideologie das Politische, wie Scruton betont. Die Begrenzung auf die Herrschaft des Politischen markiert die Trennung zwischen Islam und Ideologie. Der Din (die Weltanschauung) des Islam kümmert sich nicht nur einfach um die politische Bedingung des Menschen, in seinem Herzen liegt der Ruf nach einem normativen Programm für spirituellen Erfolg. Diese Aufgabe bietet Raum für das Politische, aber zu ihren eigenen Bedingungen, sie lässt sich niemals darauf oder dadurch beschränken.

 

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Definitionen des Politischen Islam im 20. Jahrhundert, von der deutschen Bundezentrale für politische Bildung http://www.bpb.de/publikationen/ZFTQZH,0,Politischer_Islam_im_20_Jahrhundert.html

 

…Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in den Gebieten der islamischen Welt, die teilweise Tausende Kilometer auseinander liegen, verschiedene Traditionen entwickelt, so dass, bis auf die oben genannten grundlegenden Gemeinsamkeiten, kaum mehr von einem einheitlichen Islam die Rede sein konnte. Es ist genau die Akzeptanz oder Ablehnung dieser verschiedenen Ausprägungsformen des Islam, die einen traditionellen Muslim von einem Islamisten unterscheidet. So wird ein traditioneller Muslim in Ägypten den Islam so annehmen, wie er sich in seinem Land über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hat, ein ägyptischer Islamist hingegen nicht.

 

Es ist wohl jedem denkenden Menschen klar, dass DIESE (und auch die anderen im gleichen Text verwendete) Formulierungen eher nicht geeignet sind, einen so genannten "bösen" Islamisten von einem "normalen" Muslim zu unterscheiden.

Viel eher wird hier ein konservativer, nationaler, um nicht zu sagen nationalistischer Mensch als "traditioneller, normaler" Muslim bezeichnet – obgleich Nationalismus gerade kein Merkmal traditionellen Islamverständnisses ist. Und ein Mensch, welcher die ursprüngliche, lebendige und flexible Kraft des Islams, welche durch träge Traditionen und Gewohnheiten, territoriale, individuelle und durch völkische Machtansprüche verdeckt und missbraucht wurde, für sich wieder zu entdecken wünscht und in – um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen – internationaler Brüderlichkeit wieder zu entwickeln wünscht, wird mehr oder weniger versteckt oder offen als politischer Islamist (Fundamentalist und letztlich Terrorist) bezeichnet.

 

Solch einem Verständnis kann sich ein FREI denkender Mensch, verstehe er sich als Gottergebener (Muslim) oder den materialistischen Verbindlichkeiten und Beschränkungen ausgeliefertes menschliches Wesen (Materialist), kaum anschließen. Ist es doch zu eindeutig, dass mit solchen sprachlichen Verwirrspielen weder ein klares noch kein Feindbild definiert, sondern die Möglichkeit geschaffen wird, jedweden politischen Gegner in böses Licht zu stellen.

 

Ich denke, ein ganz normaler Mensch wird sich solch einer von außen aufgezwungenen Definition erwehren und sie von sich weisen.

Ist dieser normale Mensch erklärter Muslim … so bleibt es ihm allerdings nicht erspart, als politisch agierender Islamist bezeichnet zu werden.

 

Als Muslim bleibt mir also zum ideologischen Begriff "politischer Islam" an dieser Stelle nur mehr  zu sagen:

Politischer Islam ist im Grunde also nichts anderes, als das mit diesem Begriff bezeichnete weltliche Handeln eines grundsätzlich spirituell ausgerichteten Menschen, wobei diesem Handeln seitens nichtmuslimischer Kritiker des Islams jegliche spirituelle Komponente abgesprochen wird und ihm nur materialistische, politische Motive zuerkannt werden. Dem Individuum, als grundsätzlich freies Geschöpf, wird dabei die Entwicklung jeglichen eigenständigen (spirituellen) Potentials, abseits von traditionellen, historischen politischen Machtstrukturen, frei gewählte soziale (und somit in gew. Sinne politische) Wege zu gehen, abgesprochen und verweigert.

(Hier sähe eine Kollegin, Schwester im Islam, welcher ich das Skript zum Kommentar zu lesen gab, eher lieber folgendes stehen:

jeglichen eigenständigen (spirituellen) Potentials, über traditionelle, historische und politische Machtstrukturen hinaus aberkannt, die Möglichkeit, frei gewählte soziale (und somit in gew. Sinne politische) Wege zu gehen, abgesprochen.

Ich kann dieses Verständnis schon teilen, will aber mit "abseits" auf einen unbeachteten Aspekt hinweisen. Und einer der Brüder schrieb mir zum Thema:

"Politischen Islam gibt es nicht. Denn was andersgläubige oder westliche  Menschen als politischen Islam definieren, ist lediglich das Bestreben eines Muslim bei der Gestaltung  einer Gesellschaft mitzuwirken und gemäß seinem Verständnis Gutes zu bewirken, sowie Schlechtes zu verwerfen. Menschliches Zusammenleben, Weltgeist und Gemeinschafts­denken waren schon vor der westlichen Definition von Politik Bestandteil unseres Wesens.")

 

Selbstverständlich (um nicht zu sagen, "fast ausschließlich") wird mit politischem Islam auch all jenes kriegerische oder terroristische Treiben bezeichnet, mit welchem sich Menschen, welche sich als Muslime sehen, gegen politische, militärische, religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Fremdbestimmung zur Wehr setzten oder ihre persönlichen, selbstherrlichen  Machtgelüste umzusetzen suchen.

Dass dies nicht eine der Beliebigkeit entsprungene Behauptung ist, lässt sich leicht daraus ableiten, dass vielleicht nicht jegliche, so doch manch andere kriegerische Handlung nicht als politisches Christentum oder politischer Hinduismus, etc. bezeichnet wird.

Ob solch gewaltvolles Vorgehen im Einzelnen mit der islamischen Lehre zu rechtfertigen ist oder nicht, spielt hierbei keinerlei weitere Bedeutung. Strategisch wichtig bei dieser sprachlichen Vereinnahmung ist, den Konnex zwischen Islam, Gewalt und Terror aufrecht zu erhalten, um letztlich die Religion ganz allgemein, aber vordergründig den Islam und die Muslime im Speziellen in den Augen der materialistisch, kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaften gesellschaftsunfähig darzustellen.

 

Zur islamischen Sicht zu Gewalt und Terror sei  in diesem Zusammenhang allerdings doch noch auf folgende Werke verwiesen:

 

Shaykh Muhammad Afifi al-Akiti - Fatwa gegen Angriffe auf Zivilisten "orthodoxer sunnitischer Standpunkt" - Amal Press 2005; Übersetzung 8/2006: M.M. Hanel
http://www.islamheute.ch/Afifi.pdf

DAS NEUE GESETZ FÜR EINE WELT DES GLAUBENS, FREIHEIT, WOHLSTAND UND FRIEDEN; IMAM SHIRAZI:
Übersetzung M.M. Hanel www.islamheute.ch/Krieg.htm

ISLAM und die Frage der GEWALT Seyyed Hossein Nasr; Al Sirat Vol. XIII, No. 2;

Übersetzung: M.M. Hanel http://www.islamheute.ch/Gewaltfrage.htm

FIQH COUNCIL RECHTSGUTACHTEN - Fatwa gegen Terrorismus und Religiösen Extremismus Muslimischer Standpunkt und muslimische Verantwortungen;

September 2005. Übersetzung M.M. Hanel http://www.islamheute.ch/Isna.htm

 

 

Hanel, 28.12.09

Für weitere Fragen: m.hanel@gmail.com

 

PS:

http://www.welt.de/politik/deutschland/article5665837/Veraltete-Koran-Auslegung-bremst-die-Integration.html

Zitat: Für einen Islamangehörigen, der den Koran wortwörtlich übernimmt, ihn als ewig gültiges Wort des Allahs auslegt und ihn uninterpretierbar ansieht, ist es quasi nicht möglich, sich in eine westliche Gesellschaft zu integrieren, die Demokratie zu verinnerlichen, die rechtsstaatlichen Regelungen und die Herrschaft des Volkes zu akzeptieren. Eine andere Interpretation wird nicht geduldet und ist für sie ein Tabu. Zitat Ende.

 

Erkennt niemand den Schwachsinn oder die Hintertriebenheit solcher Veröffentlichungen?

  • Nicht mehr Moslem, sondern Islamangehöriger (wobei man ja gar nicht mehr weiß, wie man ja selber sagt – welcher ISLAM damit eigentlich gemeint ist – sondern einfach ALLE Muslime konservative, liberale oder gar selbst säkulare) heißt es.
  • Jeder Muslim ÜBERnimmt den Qur'an wortwörtlich … wie denn sonst, verfälscht, verkürzt?
  • Natürlich sieht er darin das ewig gültige Wort Gottes, was sonst? Ach ja – den Qur'an als ewig gültiges Wort auslegt (heißt das nicht auch interpretiert? Nein, hier bedeutet das, "darunter versteht". Das Wort "auslegt" wird aber noch gebraucht, um den Worttaschenspielertrick zu verbergen, welcher im zweiten Satz ausgeübt wird).
  • Welcher Muslim ist nicht davon überzeugt, dass das ewige Wort Gottes nur über die Interpretation zu verstehen ist? Wie viele berühmte Qur'aninterpretatoren sind unter den Muslimen bekannt?
    Der Qur'an (selbst wortwörtlich und buchstabengetreu übernommen) kann NUR über Interpretation, je nach Wissen der Zeit & des Individuums verstanden werden, ohne, dass von einem Wesen behauptet werden könnte, er/sie/es habe Gottes Wort gänzlich verstanden.
  • Manche Gesellschaften (nicht nur muslimische) haben für sich das Interpretationsmonopol beansprucht - dies ist abzulehnen und der Integration im Westen & Osten tatsächlich abträglich.
  • Was soll der Quatsch, von "Demokratie verinnerlichen"? Hiermit wird ein "Islamistenwort" gebraucht, welcher den Mumin (Gläubigen) als jenen Moslem (Islamangehörigen) bezeichnet, der den Imaan (Glauben) "verinnerlicht" hat.
  • Herrschaft des Volkes? Was soll das denn? Nirgendwo auf der Welt herrscht das Volk – vielleicht am ehesten noch in der Schweiz. Und diese plebiszitäre Herrschaft wird gerade von ALLEN westlichen Demokratien heftigst kritisiert.
  • Und dann wird noch von einer anderen Interpretation gefaselt. Von welcher ANDEREN Interpretation wird hier gesprochen, wenn doch zuvor die Rede davon ist, dass der Qur'an als UNINTERPRETIERBAR angesehen wird!

 

 

 

 



[1][1] Wörtl., "und Religion Gott [alleine] gehört" – d.h. bis Gott ohne Angst vor Verfolgung angebetet werden kann und niemand mehr gezwungen wird, sich in Ehrfurcht vor einem Menschen zu beugen. (Siehe auch 22:40) Der Ausdruck din ist in diesem Zusammenhang passender mit "Gottesdienst" übersetzt, da dieser als solcher hier sowohl die Aspekte der Lehre, wie auch der Moral der Religion beinhaltet: will heißen, sowohl des Menschen Glauben, wie auch seine, sich aus dem Glauben ergebenden Verpflichtungen.

 

[2][2] [Wörtl., "insofern als ihnen Unrecht geschieht". In Verbindung mit dem Versprechen aus dem vorigen Vers, "Gott wird alles [Übel] von jenen fernhalten, welche zum Glauben gelangt sind", spricht dieser Vers die Erlaubnis zum physischen Kampf in Selbstverteidi­gung aus. Alle relevanten Überlieferungen (im Besonderen von Tabari und Ibn Kathir zitiert,) zeigen, dass dies die früheste qur'anische Referenz auf das Problem des Krieges überhaupt ist. Gemäß Abd Allah ibn Abbas, wurde dies unmittelbar nach dem Verlassen des Propheten Mekkas nach Medina offenbart, d.h., zu Beginn des Jahres 1 n.H. Das Prinzip der Selbstverteidigung – und nur Selbstverteidigung – wurde in Al- Baqarah, welche ungefähr ein Jahr später offenbart worden war (siehe 2:190-193 und die entsprechende Anmerkung dazu) dargelegt.

 

[3][3] Wörtl., "wäre es nicht, dass Gott einige Leute durch andere abwehrt (und zurück­schlägt)" (vgl. den gleichen Ausdruck im zweiten Absatz von 2:251). Womit auch gesagt wird, dass die Verteidigung religiöser Freiheit der wichtigste Grund für das Erhe­ben der Waffen darstellen mag – ja darstellen muss (siehe 2:193 und die entsprechende Anmerkung dazu), oder anders, wie in 2:251, "würde gewisslich Verderben die Erde überkommen".