09.11.2011 Aus
gegebenem Anlass: Ehen unter Zwang sind im Islam ungültig.
Von Abdurahman Reidegeld
http://islamische-zeitung.de/?id=5282
Die muslimische Position zur „Zwangsheirat“
(iz). Gerade wieder einmal geistert in den Medien
der Begriff der „Zwangsheirat“ herum, meist kombiniert mit haarsträubenden
Begebenheiten, in denen junge muslimische Frauen zwangsweise in die Türkei
verheiratet worden seien. Aufgepeppt wird diese Art der Berichterstattung
mit einem Hinweis, der heutzutage immer Auflagen garantiert: Dies sei eben
eine „islamische Zwangsheirat“. In diesem Beitrag nun wird in einer
Frage-Antwort-Form dargelegt werden, dass jedwede Art von Zwangsausübung,
Drohung etc. vom klassischen islamischen Eherecht abgelehnt wird und es
also eine „islamische Zwangsheirat“ per se nicht gibt.
Leider ist es bezeichnend für die Medien- und Informationssituation, dass
Fehldarstellungen nicht nur ungeprüft verbreitet, sondern zur
Auflagenstärkung propagiert werden; das Feindbild „Islam“ ist derzeit Geld
bringender Kassenschlager der Massenmedien und schürt ungehemmt und
skrupellos, in sinnloser Art und Weise, Hass und Vorurteile.
Was sind die zu diesem Thema relevanten Stellen im Qur’an und den Ahadith, und wie werden diese von den Gelehrten
interpretiert?
Eine Ehe wird gemäß dem Fiqh, der islamischen
Rechte- und Pflichtenlehre, als eine gegenseitige Handlung aufgefasst, bei
der die Hauptakteure, die Eheleute und der Wali der Frau (siehe unten)
also, eine ehrliche Absicht haben müssen, dass die Ehe zustande kommt zum
Wohle aller Beteiligten. Hier gilt der Hadith:
„Wahrlich, die Handlungen stehen in Abhängigkeit von den Absichten (Nijjat), und einem Jeden kommt das zu, was er
beabsichtigt hat“. (Als Sahih-Überlieferung bei
den großen Hadith-Sammlern).
Wer also zum Beispiel die Absicht hat, seine ihm anvertraute Tochter wegen
Geld zu verkuppeln, kann kein Wali im Sinne des islamischen Eherechts sein.
Wer als Mann oder Frau eine Ehe nicht wünscht, sondern nur aus familiären
Beziehungen ausbrechen will, ohne ernsthaft zum Zeitpunkt des Eheschlusses
den anderen Ehepartner als Ehepartner zu wollen, der hat im Sinne des Islam
keine gültige Ehe geschlossen.
Eine schlechte Behandlung der Frau durch den Ehemann ist durch
ausdrückliches qur’anisches Verbot untersagt: „So
lebt mit Ihnen [im Eherahmen] auf gute und anständige Weise (ma’ruf) zusammen“ (An-Nisa’,
19). Einem sündhaften, bösartigen oder unanständigem Mann steht es nicht
zu, Wali oder Ehemann einer anständigen Frau zu sein; in diesem Sinne wird
der folgende Qur’anvers verstanden: „Ist denn
etwa jemand, der innerliche, überzeugte Hinwendung zu Allah besitzt (Mu’min ist), wie ein sündhafter, ausschweifender Mensch
(Fasiq)? Sie sind nicht gleich.“ (As-Sadschda, 18 ).
Aus dem Bereich des Hadith wird etwa die bei
vielen Hadith-Sammlungen bekannte Sahih-Überlieferung herangezogen: „Eine Ehe (Nikah) existiert nur mit einem Wali“. Will sagen: Ohne
Mitwirkung eines Wali (Sachverwalter der Frau, der die erste Eheformel im
Ehevertrag spricht), kann keine gültige Ehe existieren. Diese Überlieferung
wird von den Fiqh-Schulen mit Ausnahme der Hanafijja als verpflichtend und bindend betrachtet,
während die Hanafijja aus rechtstheoretischen und
aus Gründen der Abwägung anderer Quellen diesem Hadith
nur strengen Empfehlungscharakter, nicht aber Elementarpflichtscharakter,
zuspricht.
Die ausdrückliche Verpflichtung, anvertrauten Frauen nur gute männliche
Personen als künftige Ehegatten anzutragen und sie ihnen mit Einverständnis
anzutrauen, findet sich etwa im bekannten Hadith,
wo der Gesandte Allahs, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, sagt:
„Wählt die Besten/Anständigsten für die Euch anvertrauten Frauen aus;
verheiratet diejenigen miteinander, die gleichartig (in ihrer Güte) sind,
und lasst die [euch Anvertrauten] von solch [guten Männern] Ehepartner
finden.“ (Als Sahih überliefert bei Al-Hakim).
Welche Bestimmungen ergeben sich diesbezüglich aus dem Vorbild des
Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, das heißt aus der Sunna und
relevanten Ahadith, und seiner Gefährten sowie
den frühen Khalifen?
Eine Schlüsselrolle zum Verständnis bilden hier die beiden Begriffe von Wilaja und Wikala. Unter „Wilaja“ versteht man eine Schutzrolle, das heißt aus
dem Grundsatz der islamischen Lehre, dass eine Frau immer geschützt und mit
Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgt werden muss. So geht eine junge,
unverheiratete Frau idealerweise aus islamischem Verständnis aus der
Verantwortung ihres Vaters beziehungsweise des Familienvorstandes in die
Verantwortung des Ehemannes über. Darunter ist aber nicht zu verstehen,
dass die Frau keine Berufstätigkeit oder Lehrtätigkeit etc. ausüben könnte,
nur: Alles Geld, was sie verdient, gehört nur ihr allein, während alles
Geld, was ein Ehemann verdient, grundsätzlich auch seiner ganzen Familie
mitgehört. Er muss nämlich Frau und Kinder, in manchen Fällen Eltern und
andere Verwandte mitversorgen.
Schon die ältesten Gelehrten - bis heute im Konsens - gehen davon aus, dass
sogar eine reiche Frau, die eigenes Einkommen hat, nicht gezwungen werden
darf, von ihrem persönlichen Besitz und Einkommen für ihre Kleidung,
Wohnung und Nahrung aufzukommen, sondern auch hier der Ehemann es müsste.
Dies war durchgängig Praxis in Übereinstimmung aller Gelehrten, von der
Prophetenzeit, der Epoche der rechtgeleiteten Kalifen, der Dynastien der Umajjaden, der Abbasiden und
späterer wie den Osmanen und anderen bis zur heutigen Zeit.
Die „Wilaja“ ist also eine Schutz- und Versorgerrolle, und insofern übernimmt der Wali (der
eben jene Wilaja inne hat) den aktiven Part für
die Frau während des islamischen Ehevertrages; den anderen übernimmt der
künftige Ehemann. Dennoch kann und darf der Wali nur mit Zustimmung der
Frau handeln; darum wird im klassischen Fiqh
festgelegt, dass die Frau beim Eheschluss anwesend sein müsse, um
gegebenenfalls noch im letzten Moment vor Gültigwerden
der Ehe ihr Einverständnis zurücknehmen zu können.
Auch besteht ein Unterschied in den Auffassungen der Fiqh-Schulen
zur notwendigen Erfordernis eines Wali: Die hanafitische
Schule lässt unter bestimmten Umständen einen Eheschluss ohne Wali zu; die malikitische, schafi’itische
und hanbalitische Schule vertreten die
Auffassung, es müsse immer - und sei es pro forma - ein Wali vorhanden
sein. Aus dem Bereich des Hadith wird hier etwa
die folgende Sahih-Überlieferung vom Propheten
herangezogen: „Eine Ehe (Nikah) existiert nur mit
einem Wali“. Das heißt, dass ohne Mitwirkung eines Wali kein gültiger
Ehevertrag geschlossen werden kann. Diese Überlieferung wird, wie bereits
oben erwähnt, von den Fiqh-Schulen außer der Hanafijja als verpflichtend und bindend betrachtet.
Alle Gelehrten jedoch betonen: Wenn ein Familienvorstand theoretisch Wali
einer Frau sein kann, aber sie zu einer Ehe zwingen will, ohne ihr Wohl
dabei zu beachten, so ist sie nicht mehr an ihn gebunden und kann sich
einen eigenen Wali aus einem bestimmten Teil ihrer Verwandtschaft suchen. Ist
das nicht möglich (etwa, wenn es ansonsten niemanden gibt oder zu keinem
ein Vertrauensverhältnis besteht oder weil die Betreffenden einen
sündhaften und unanständigen Lebensweg beschreiten), so steht es ihr auch
nach den strengsten Auffassungen der Gelehrten frei, einen anständigen,
beliebigen Muslim als Wali zu nehmen. Immer unter dem Gesichtspunkt, dass
der Wali ihr Beschützer und Sachverwalter ihrer ehrlichen Interessen sein
soll. Unter „Wikala“ hingegen versteht man im
islamischen Eherecht die Vertretung einer Person durch eine andere während
des Ehevertragsschlusses.
Bezeichnenderweise können sich der Wali oder auch der Ehemann durch einen
Sachverwalter (Wakil) vertreten lassen (etwa wenn
der Vater der Braut in einem anderen Land lebt und einen Wakil ernennt, der zusammen mit der Braut, dem
Bräutigam und den Zeugen den Eheschluss vornimmt). Die Frau aber (sowie praktischerseits auch die Zeugen) kann niemals während
des Ehevertrages durch einen Vertreter oder eine Vertreterin ersetzt werden
- sie ist die zentrale Person, und von ihrer Zustimmung ist die Gültigkeit
der Ehe abhängig.
Wie sehen die Urteile der Rechtsschulen dazu aus? Und gibt es
Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten? Wie gestaltete sich die
diesbezügliche Praxis in der islamischen Geschichte?
Alle Schulen des Fiqh, egal ob sunnitische oder
schiitische, sind übereinstimmend der Meinung, dass eine Ehe ungültig ist,
bei der eine Frau gegen ihren ausdrücklichen Willen gezwungen wird, einen
bestimmten Mann zu heiraten. Allgemein gilt: Wenn einer oder beide künftige
Ehepartner zum Zeitpunkt des Ehevertrages einander nicht heiraten wollen,
aber gezwungen werden (durch Gewalt oder Androhung derselben, „Ikrah“ genannt), ist diese Ehe ungültig. Die korrekte
und aufrichtige Absicht zum Führen einer Ehe ist zwingend erforderlich -
und dies auch unabhängig von der Frage von „Ikrah“:
Wer einen Ehevertrag eingeht, aber in seinem Inneren die Eheführung ablehnt
und dies später vor einem islamischen Richter (Qadi)
bestätigt, dessen Ehe kann unter bestimmten Umständen für aufgelöst (Faskh) erklärt werden, bzw. er oder sie kann - bei
früherem „Ikrah“ - die Scheidung erwirken.
Daher kann gemäß dem islamischen Eherecht eine verheiratete Frau - wenn sie
nämlich zur Ehe gezwungen wurde - jederzeit eine Scheidung erwirken. Das
war bereits vor 1.400 Jahren der Fall, und gilt bis heute dort, wo
islamisches Eherecht rechtskräftig gilt und angewandt wird, zum Beispiel in
Syrien, Jordanien und anderen Staaten. Wie sieht die Praxis unter Muslimen
in Deutschland aus? Welche Rolle spielen dabei Aspekte, die mit dem Islam
gar nichts zu tun haben? Wie ist die Quantität solcher Vorfälle
einzuschätzen?
Zuerst möchte ich betonen, dass hier in Deutschland bei einem Eheschluss
unter Muslimen sowohl das allgemeine zivilrechtliche deutsche Eherecht
Beachtung finden muss als auch das islamische, insofern religiöse
Berechtigung gemeint ist. De facto wird also zuerst eine standesamtliche
Heirat stattfinden, die für Muslime (übrigens analog zur katholischen
kirchenrechtlichen Auffassung) vor Gott erst durch den
religiös-legitimierten Teil zur echten Ehe wird. Es wird also ein
islamischer Eheschluss nachgesetzt, der aus deutscher Sicht keine
rechtliche Relevanz hat, aber für den Muslim das Entscheidende darstellt.
Die Ebene der Missverständnisse wird dadurch geschaffen, dass - bezüglich
des nationaltürkischen Anteils der Muslime in Deutschland - weder in
Deutschland, noch in der heutigen Türkei eine staatlich anerkannte
„islamische Ehe“ existiert. Insofern ist die Lage wesentlich anders als
etwa bei Angehörigen eines Staates wie zum Beispiel Marokko oder Jordanien,
wo nur die islamischen Eherechtsvorschriften für Muslime als staatlich
legitim gelten.
In diesen Fällen bestehen zudem besondere bilaterale Abkommen zwischen Deutschland
und diesen Staaten hinsichtlich Eheschließungen; etwa wird auch bei der
Heirat einer jordanischen Staatsbürgerin in Deutschland von deutscher Seite
eine besondere Ehefähigkeitsbescheinigung verlangt, die konkret im
jordanischen Verständnis die Einverständniserklärung des Wali der Frau ist.
Bei Muslimen aus allen Staaten, die für Muslime (weitgehend oder
vollständig) islamisches Eherecht vorsehen, ist de facto keine Zwangsheirat
möglich und auch nicht legitim dokumentiert; selbst in Extremfällen, wenn
eine junge Frau gegen ihren Willen ins Ausland gebracht werden sollte, um
dort zu heiraten, wäre eine „Zwangsheirat“ in Deutschland auch aus Sicht
des Herkunftslandes unmöglich zu legitimieren.
Dort in diesen Ländern wiederum ist es für eine Frau relativ leicht, eine
Scheidung zu erwirken, weil es dort auch staatlich autorisierte islamische
Ehegerichte gibt.
Nachweisliche Tatsache ist ferner:
Dass es 1.)
keine mit Zwang verbundene gültige Eheschließung gemäß dem islamischen
Eherecht gibt, weder in der Frühzeit, noch in der klassischen Epoche, noch
heute;
Dass 2.)
die betreffenden Frauen meist aus Familien stammen, die keine
praktizierende Lebensweise im klassisch-islamischen Sinne pflegen, vielmehr
lediglich nominell Muslimische sind;
Dass 3.)
der de facto erfolgende unrechte Zwang auf besagte Frauen nicht von
islamischen Gelehrten geleitet beziehungsweise erlaubt wird; diese
Praktiken ereignen sich zu mehr als 90 Prozent im nationaltürkischen
Milieu, weil dort seit Gründung der türkischen Republik kein islamisches
Eherecht mehr offiziell existiert, also auch keine Kontrollinstanz durch
staatlich autorisierte Ehegerichte. Diese Situation ist hingegen weder bei
arabischen Ländern, noch im indo-pakistanischen
Raum gegeben, wo eine Frau sehr leicht eine Scheidung beziehungsweise
Nichtigkeitserklärung fordern könnte und auch häufig fordert, unter
Bestrafung der Freiheitsberauber.
Dass 4.)
dieses derzeit viel beschworene Phänomen der „Zwangsheirat“ (im Sinne einer
Pseudo-Verheiratung durch einen „Imam“, einem bloßen Vorbeter, keinem
wirklichen Gelehrten also) auch in der zweiten und noch stärker in der
dritten Generation der in Deutschland lebenden Türken - Gott sei Dank -
eine Seltenheit geworden ist.
Wir reden hier also über Missstände, die gesellschaftlich-traditionell (im
Sinne eines nur islamisch kaschierten Missbrauchs der Religion) in einer
längst säkularisierten Türkei stattfanden und vor mehreren Jahrzehnten nach
Deutschland übertragen wurden, heute aber nur noch bei gänzlich
ungebildeten Muslimen zumeist der letztlich nicht-praktizierenden Schicht
in seltenen Fällen vorkommen.
Dies aber als Regel, geschweige denn als islamisch legitimiert bzw.
legitimierbar zu bezeichnen, ist ein Zeichen völliger Unkenntnis über
Geschichte, Rechtsauffassung und De-Facto-Zustand außerhalb der
Nationaltürkei alten Zuschnitts (also bis in die 1980er Jahre). Gerade das
neue Bewusstsein eines eher intellektuellen Islams, der sich an
Quellenwerken orientiert, nicht mehr nach pseudo-islamischen Volkssitten,
hat in den letzten Jahren solche Praktiken endlich dorthin gestellt, wo sie
hingehören: in die Ecke der jahrzehntelangen Unwissenheit gerade durch den
Wegfall einer echten überwachenden Eherichterschaft.
Dieser Text wurde zum ersten Mal im Dezember 2004 in der Printausgabe der Islamischen
Zeitung veröffentlicht.
_________________
As Salaamu alaikum M.M.Hanel
www.gsiw.ch
www.islamheute.ch
www.biogas-esu.com
|