Festrede von Dolores Bauer

Solidaritätspreis der Kirchenzeitung   Linz, 22. Oktober 2001Nähere Informationen zu Dolores Bauer finden Sie unter:

www.globart.at/academy/2001/bauer.html
 

Es ist mir eine Freude und eine Ehre, dass ich anlässlich der Verleihung der Solidaritätspreise dieses Jahres im Steinernen Saal des Landhauses in Linz einen Beitrag leisten darf.

Das hat zwei Gründe:

Erstens freue ich mich, weil das hier, eher symbolisch gemeint, immer noch Heimatboden ist. Auch wenn ich seit Jahrzehnten in Wien lebe, auch wenn es mich inzwischen weit in der Welt herumgetragen hat und ich erkennen durfte, dass ich mich überall dort zu Hause fühle, wo Menschen als Kinder Gottes solidarisch miteinander leben, so bleibt doch der Wurzelgrund dieses Landes Oberösterreich und dieser Diözese wichtig für mein Leben.

Zweitens freue ich mich, dass die Linzer Kirchenzeitung den Begriff SOLIDARITÄT vor den von ihr gestifteten Preis gesetzt hat. – Denn darum geht es! – In einer Zeit, in der es ein wirtschaftliches und politisches System darauf angelegt hat, Menschen zu isolieren, in die Geiselhaft von Konkurrenzdenken zu treiben, den einen gegen die andere auszuspielen, den Stärkeren gegen die Schwächere und so einer Art Neodarwinismus zu huldigen; in einer Zeit, in der nur noch Geld und Geldwert die Gesellschaften zu bestimmen scheinen, ist es hoch an der Zeit, ja ein Gebot der Stunde, jenen Menschen und Gruppen Mut zu machen, die sich der Solidarität mit den Randständigen verschrieben haben, wie das nach meinen knappen Informationen bei den diesjährigen Preisträgern der Fall ist, die das noch dazu nicht erst seit vorgestern, sondern seit Jahren betreiben.

Solche Menschen müssen heute bestärkt und auch in das Licht der Öffentlichkeit gestellt werden, um auch anderen Mut zu machen, solche Wege zu beschreiten, statt zu Hause vor ihren Fernsehgeräten im Schrecken über die Gewaltberichte zu verstummen.

Der Begriff SOLIDARITÄT hat es in unserer Welt, auch im kirchlichen Bereich, nicht immer leicht gehabt. Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich mit meinen ersten Berichten aus Afrika, Asien und Lateinamerika zurückgekommen bin und Solidarität mit den Ausgegrenzten dieser Welt eingefordert habe. Da haben mir zwar die einen, meist die Kleinen, tatkräftig geholfen, die anderen aber haben mich marxistischen Gedankengutes bezichtigt. Als ich in Südafrika an Diskussionen teilgenommen habe und tätige Solidarität mit den Schwarzen in ihren Townships und Homelands angemahnt habe, nannte man mich eine Kommunistin. Erst als die päpstliche Formulierung: „Solidarität ist das neue Wort für Liebe“ die Runde machte und der Begriff SOLIDARITÄT quasi getauft worden ist, hat sich das nicht sofort, aber doch langsam geändert.

Heute, allgemein akzeptiert, wenn auch nicht praktiziert, gerät dieser Begriff einer lokalen, regionalen und internationalen Geschwisterlichkeit, einer Mitverantwortung füreinander in Gefahr missbraucht zu werden. Für mich persönlich ist SOLIDARITÄT ein Begriff, der mich als Mensch, als Frau und Christin, in den Auftrag Jesu hineinnimmt, mich an die Seite der Armen, der Schwachen, der an und über den Rand Geschobenen zu stellen und tätig zu werden, zu versuchen mich mit Gleichgesinnten zusammenzutun, um wirksamer zu werden und auch um jene zu ermutigen, die sich abseits halten und sich in ihrer vermeintlichen Ohnmacht suhlen, weil Engagement eben auch unbequem sein kann.

Was aber seit den schrecklichen Ereignissen vom 11. September antönt, stimmt mich bedenklich. Da ist der Begriff der solidarischen, mitmenschlichen, ja mitkreatürlichen Haltung – wenn man so sagen kann – kräftig angepatzt worden. Ich meine, wir alle haben die furchtbaren Bilder von den brennenden, qualmenden Türmen des World-Trade-Centers und der weitläufigen Zimmerfluchten des Pentagon vor Augen und in unsere Seelen eingebrannt. Aber wir haben auch die schrillen Forderungen nach Rache und Vergeltung im Ohr: Man werde einen Kreuzzug führen und die Nester der Terroristen ausräuchern. Amerika, so hieß es, werde der Welt zeigen, was die Wahrheit ist. „Welche Wahrheit?“, habe ich mich schon in der ersten Nacht gefragt. – Amerika, so hieß es, werde das Böse mit der Wurzel ausreißen: „Welches Böse?“ habe ich mich gefragt und frage mich noch. Mir gefallen beide Fratzen nicht, weder jene der Administration der verbliebenen Supermacht, noch jene der islamistischen Fanatiker, die einander in wechselseitigem blutrünstigem Gesang vorwerfen, die wahren Terroristen zu sein.

Die Kamikaze-Flieger vom 11. September, die Passagierflugzeuge zu tödlichen Bomben umfunktioniert haben, sind ohne Zweifel Terroristen gewesen. Aber inzwischen haben sich weder 156 Abgeordnete der Vollversammlung der Vereinten Nationen noch die Abgeordneten des Europaparlaments auf eine Definition des Begriffs Terrorismus einigen können. Also wird man sich doch wohl fragen dürfen, ob nicht auch das Terrorismus ist, was Papst Johannes Paul II. „STRUKTUREN DER SÜNDE“ nennt. Das sind jene wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen, die die Mehrheit der Menschen zu Globalisierungsverlierern machen, ihnen jedes Lebensrecht, jede menschliche Würde absprechen.

Ich kenne die Todesumstände – wie Bischof Erwin Kräutler das nennt –, in denen unsere Schwestern und Brüder vegetieren und versuchen von einem zum nächsten Tag irgendwie zu überleben. Ich habe sie in den Dürregebieten Afrikas ebenso gefunden wie in den Slums der Megastädte, in den abrutschenden Hütten an den Kanälen Manilas, in den rauchenden Müllhalden Kairos wie an den Küsten Indiens, deren Fischgründe ausgebeutet worden sind von den riesigen Fangflotten der internationalen Konzerne. Ich habe sie in den erbärmlichen Dörfern der Dalits ebenso gefunden wie unter den Arbeiterinnen der Maquiuadores, der sogenannten freien Produktionszonen in Mexiko, Honduras und in den Philippinen. Sie sind mir in den Elendsviertel von Soul ebenso begegnet wie in den steilen Bergtälern von Chiappas. Sie sind es, die unsere Solidarität brauchen, und nicht die stärkste Militärmacht der Welt, so schwer sie immer getroffen sein mag von wahnsinnigen Attentätern, die sich von einer ihre Religion missbrauchend Ideologieen, dazu verführen lassen, sich selbst und andere zu töten.

Ich habe von diesen Lazarussen der Welt aber auch erfahren, dass sie für uns zu Lehrmeistern der SOLIDARITÄT werden können, wenn sie das wenige miteinander teilen, einander Mut machen, den gewaltlosen Kampf gegen Ungerechtigkeit und für Frieden nicht aufzugeben. Und ich werde das Gesicht der kleinen Indiofrau Maria Gomez niemals vergessen, die mich auf meine Frage, ob sie die Männer denn hasse, die neun ihrer engsten Familienangehörigen ermordet haben, aus großen Augen anschaute und meinte: „Que es odio – was ist Hass?“ Dann fügte sie hinzu: „Mein Herz tut sehr weh und die Wunden werden lange brauchen um zu heilen, aber sie werden heilen, denn Gott verlässt mich und mein Volk niemals. Er ist uns auch in diesen schweren Stunden ganz nahe und wird unsere verwüsteten Gärten wieder aufbauen.“

Ist das, was diesen Menschen tagtäglich angetan wird, nicht auch Terrorismus? Ist es nicht auch Terrorismus, wenn jeden Tag 100.000 Menschen vor der Zeit, wenn pro Jahr mindestens 4 Millionen Kinder an Hunger oder an den Folgen von Mangel- und Fehlernährung sterben, während 20 Prozent der Menschheit im Überfluss lebt?

Unmittelbar nach den Attentaten vom 11. September war der deutsche Biologe und Politiker Ernst Ulrich von Weizsäcker in Wien und hat es auf den Punkt gebracht, wenn er sagte: „Es geht nicht darum, dem Terror den Krieg zu erklären, sondern darum, alles zu versuchen um eine Solidarisierung der Armen mit den Terroristen zu verhindern.“ – Das aber – so Weizsächer – sei nicht mit Bomben, Marschflugkörpern, Kriegsschiffen und Panzern zu bewerkstelligen, sondern nur mit den Waffen der Gerechtigkeit. Die heutige sogenannte neue Weltordnung nach amerikanischem Muster bewirke das Gegenteil und treibe die armen, von der Wirtschaft ausgegrenzten Menschen den Terroristen nachgerade in die Arme.Das dem so ist, konnten wir in den vergangenen Wochen und in diesen Tagen sehen, hören und lesen, soweit wir außer Propaganda auch echte Nachrichten bekommen. Jedenfalls haben die über Afghanistan abgeworfenen Care-Pakete nichts mit der von Weizsäcker geforderten Gerechtigkeit zu tun, sondern sind ein Hohn in Anbetracht des unsagbaren Leidens dieses geschundenen Volkes. Würde man die gigantischen Summen, die dieser amerikanisch-britische Militäreinsatz kostet, in die Infrastruktur des Landes am Hindukusch investieren, würden dem Menschen verachtenden und verbrecherischen Taliban-Regime vielleicht eher der Boden entzogen werden als so. Welcher Aufwand, um einen Mann zu fangen, auch wenn der Osama Bin Laden heißt! Besser verständlich wird das schon, wenn man bedenkt, dass die amerikanische Administration und die hinter ihr stehenden Lobys an einem leichter zugänglichen oder sagen wir leichter käuflichen Afghanistan interessiert sind, damit sie endlich die lang geplante Öl- und Erdgas-Pipeline aus Turkmenistan in den Persischen Golf bauen können, die mitten durch dieses Land führen soll.

Wenn der Putschgeneral und Präsident Pakistans von „unverbrüchlicher Solidarität“ mit den USA und Großbritannien redet, so wird mir ebenso übel wie bei dem beinahe hysterischen Sicherheitsgezeter der europäischen Politiker. Sicherheit wird es erst dann geben können, wenn den Unterdrückten und Ausgegrenzten, den Armen und Elenden der Welt ein Leben n Würde ermöglicht sein wird. Ein Krieg kann dies niemals erreichen, aber, so erinnere ich mich an einen Ausspruch von Rabbi Tovia Ben Chorin, Sohn des legendären Shalom Ben Chorin: „Der Frieden und die Gerechtigkeit sind ihnen immer zu teuer, niemals aber dem Krieg.“

Es schaut also nicht danach aus, als wäre von den Reichen und Mächtigen viel für den Aufbau einer weltweiten Solidarität, einer geschwisterlichen Gesellschaft zu erwarten. Es wird also weiterhin bei den Kleinen bleiben, sich um die Armen und Schwachen zu kümmern. Gottlob gibt es diese kleinen oder größeren, geduldigen und aktiven Gruppen und Bewegungen auch überall auf der Welt. Wo solche Menschen solidarisch um der anderen willen zusammenwirken, beginnen die Blumen der Liebe zu blühen, die auch den härtesten Boden durchwachsen und fruchtbar machen können, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Sie sind es, die den Samen für eine mögliche Zukunft aussäen.

Vor wenigen Tagen hat der brasilianische Befreiungstheologie Leonardo Boff ein MANIFEST FÜR DEN FRIEDEN veröffentlicht, aus dem ich hier zitieren möchte:

„Wir erfahren in diesen Tagen mit Bestürzung und Unwillen das Hereinbrechen menschlichen Wahnsinns. Lassen wir ihm nicht das letzte Wort. Erwecken wir in uns die uns eingestiftete Mitmenschlichkeit, die jenseits aller Rassen, Ideologien und Religionen wirksam werden kann, um nicht dem Wahnsinn, sondern der Solidarität das letzte Wort zu erteilen. Sie ist es, die uns anleitet, gemeinsam zu weinen, gemeinsam zu beten, gemeinsam nach Gerechtigkeit zu streben und sie zu tun, gemeinsam den Frieden zu errichten und der Rache und Vergeltung zu entsagen.

Terrorismus kann den Terrorismus nicht besiegen, Hass nicht den Hass. Nur Liebe besiegt den Hass und zur Liebe hat Jesus uns verpflichtet. Nur unermüdlicher Dialog, großzügige Verhandlungen und gerechte Lösungen reißen die Mauern des Terrorismus ein und begründen den Frieden, den diese Welt so bitter nötig hat.“ – 

„Die Zeit drängt“ – so Leonardo Boff, dem am 7. Dezember dieses Jahres einer der Alternativen Nobelpreise verliehen wird – „Löscht es aus, das Wort Feind. Nur Angst schafft Feinde. Reißen wir die Angst aus unseren Herzen, indem wir im anderen einen Nachbarn und im Nachbarn einer Bruder, eine Schwester erkennen. Jeder und jede Einzelne ist gefordert, seinen, ihren Baustein für die Errichtung eines Heiligtums des Friedens beizusteuern. Der Geist Gottes möge die Wege unserer Geschichte mit seinem Licht und seiner Wärme begleiten, wenn wir aus ehrlichem Herzen, aus der Kraft der Solidarität bereit sind, unseren Beitrag zum Aufbau einer fairen Welt für alle, also Reich-Gottes-Arbeit zu leisten.

Ich möchte mit dem Text eines Weihnachtsliedes aus Bethlehem schließen, in dem das angesprochen ist, worum es in Jesu Verkündigung geht, wenn er sagt: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder, meiner Schwestern getan habt, habt ihr mir getan, was ihr aber ihnen verweigert habt, habt ihr mir verweigert. 

In diesem Sinn erklingt das Lied aus einem besetzten Land, das seinen Bewohnern zum Gefängnis geworden ist:

Nacht der Geburt – der Hass wird überwunden,

Nacht der Geburt – die Erde wird erblühen,

Nacht der Geburt – der Krieg wird begraben,

Nacht der Geburt – die Liebe erstrahlt.

Wenn wir einem Durstigen einen Becher Wasser geben, dann ist Weihnacht.

Wenn wir einem Nackten ein Kleid der Liebe schenken, dann ist Weihnacht.

Wenn wir die Tränen der anderen trocknen, dann ist Weihnacht.

Wenn wir die Herzen mit neuer Hoffnung füllen, dann ist Weihnachten 

angekommen. – Nacht der Geburt.

In diesem Sinne, meine Damen und Herrn, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, möchte ich Ihnen herzlich zur Auszeichnung der Linzer Kirchenzeitung gratulieren und Ihnen Mut, Ausdauer und den Beistand des Heiligen Geistes für Ihren weiteren Weg, für Ihr weiteres Engagement wünschen.