Über den Dialog der Kulturen
Vortrag des Präsidenten der Islamischen Republik Iran bei
einem Treffen mit den Denkern und Kulturschaffenden Deutschlands in Weimar
Im Namen des barmherzigen und
gnädigen Gottes! Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Professorinnen und
Professoren, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Für mich ist die Anwesenheit im
Kreise der Denker und Kulturschaffenden stets ein Vergnügen. Doch dieses
Treffen, das mit der besonderen Stellung des Denkens und der Kultur
Deutschlands und deren hervorragendes Symbol Weimar in Zusammenhang steht, hat
eine andere unvergessliche Qualität.
Vor nun mehr als einem Jahr sprach
ich an der Universität Florenz von einer Notwendigkeit in unserer Welt, die ich
heute aus einer anderen Perspektive behandeln möchte. Dort sagte ich, dass der
Dialog der Zivilisation und Kulturen ein Begriff ist, der durch das stetige
Bemühen um die Annäherung an die Wahrheit und die Verständigung entstanden ist.
Der Dialog ist die Logik des Sprechens und des Hörens. Er hat weder mit den
Skeptikern zu tun noch mit denen, die glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein.
Aus diesem Grunde bedarf der Dialog der Kulturen des "Hörens von anderen
Kulturen und Zivilisationen".
Die heutige Welt ist auf der Suche
nach einer neuen Grundlage für die Regelung menschlicher und gesellschaftlicher
Beziehungen. Diese Grundlage ist nach unserer Ansicht der Dialog, in dem Ost
und West keine Objekte der Erkenntnis, sondern Gesprächspartner sind. Dialog im
Sinne der klaren geografisch-kulturellen Kenntnis der Welt, des kritischen
Blicks auf sich und andere, der Bemühung um das vergangene Erbe mit
gleichzeitiger Suche nach neuen Erfahrungen. Dialog über die Notwendigkeiten
und Bedürfnisse des Menschen im Kontext des heutigen und des morgigen Lebens.
Für einen wirklichen Dialog zwischen den Zivilisationen und Kulturen müssen
neue Türen aufgestoßen werden, um die Realitäten der Welt zu erkennen und neue
Einsichten in die östliche und westliche Welt zu gewinnen.
Die grundlegende Frage ist, wie
eine gemeinsame Aussicht für das Sehen, ein gemeinsamer Ort für das Hören und
eine gemeinsame Sprache für das Sprechen gefunden werden können. Ein Dialog
hinter trüben Scheiben, mit tauben Ohren und unbekannten Sprachen kann nicht
geführt werden. Wir müssen auf der Grundlage unserer östlichen und westlichen
Herkunft und über den engen Rahmen der Sprachregelungen und die professionellen
Parolen der internationalen Konfrontationen hinaus miteinander reden. Dialog
ist vor allen Dingen die Suche nach mitfühlendem und vertrauensvollem Kontakt.
Im gemeinsamen weltweiten Bemühen um die geistige Entfaltung und die materielle
Entwicklung des Menschen werden die west-östlichen Verständigungsschleier immer
dünner. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Kulturen assimiliert, aufgelöst
und ihre Vielfalt und Unterschiede aufgehoben werden können. Die Menschen aus
dem Orient und Okzident können trotz der Parallelität ihrer Kulturen
verschiedene Geschöpfe sein, die einander ergänzen und sich im tiefen
Bewusstsein mit der angestammten Heimat verbunden fühlen. West und Ost sind
nicht nur geografische Gebiete, sie sind auch Weltanschauungen und Seinsweisen. In einem echten Dialog können durch die
Anerkennung dieser Potenziale, Identitäten und Einstellungen in Ost und West
der gebührende Anteil der Parteien akzeptiert, ihre höheren Wahrheiten
herausgestellt und für die sich im Wandel befindliche Welt eine gemeinsame
menschliche Essenz zwischen der Materialität und Spiritualität gesucht werden
(...)
Gestatten Sie mir, diese Stadt und
diesen Kreis zum Anlass zu nehmen, um das Thema mit einem Beispiel zu
erläutern. Der Anlass selbst ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Gedankenaustauschs
zwischen dem Orient und dem Okzident und zwischen Deutschland und Iran. Dieser
Wendepunkt ist die Veröffentlichung des "West-östlichen Divans" von
Goethe im Jahre 1819. Goethe hat im Titel dieses Buches nicht nur das besonders
bedeutsame Wort Divan als Hinweis auf das Orientalische gebraucht, sondern auch
den arabischen Titel "Östlicher Divan des westlichen Autors" für
diese Gedichtsammlung ausgewählt. Dieser Titel ist im gewissen Sinne noch
ausdrucksstärker als der deutsche. Mehr als das Interesse des Verfassers an die
geheimnisvollen Länder des Orients und seine Sprache und Kultur zeigt der
Titel, dass der große deutsche Dichter Ost und West nicht nur als zwei
geografische Regionen begreift, sondern als zwei philosophische und kulturelle
Pole der Welt, und versucht, als westlicher Dichter mit dem Orient,
insbesondere mit dessen Geistes- und Kulturgrößen in Dialog zu treten. Die
iranische Kultur und einige ihrer hervorragenden Vertreter haben in dieser
Vorstellung Goethes eine besondere Stellung.
Hafis ist ein Symbol des
islamisch-iranischen Denkens und der Identität. Er ist "die Sprache des
Übersinnlichen". Er hat ein sicheres und inneres Verhältnis zum Koran und
zu Offenbarungswahrnehmungen. Seine Wahrnehmung und sein Gefühl widerspiegeln
das Übersinnliche an unserer Kultur. Er ist der Meister des Übersinnlichen, des
Verborgenen. Daher spielt er in unserem Alltagsleben die Rolle des Weissagers.
Jeder Iraner entdeckt in Hafis einen unentdeckten Teil seines kulturellen
Gedächtnisses (...)
Im "West-östlichen
Divan" von Goethe gibt es keine Anzeichen kolonialistischer Absichten und
hegemonialer Interessen, die leider die westliche Politik in den letzten
Jahrhunderten des Öfteren begleitet haben. Dort geht der westliche Dichter über
das Kennenlernen des "Anderen" hinaus und versucht, mit ihm ins
Gespräch zu kommen.
Der große persischsprachige
Dichter Iqbal aus Lahore antwortet im Jahre 1923 in seinem Gedichtband
"Botschaft des Orients" den Gruß Goethes an den Osten. Iqbal wurde im
indischen Subkontinent geboren und verbrachte sein ganzes Leben außerhalb der
geografischen Grenzen Irans. Er fühlte sich trotzdem mit der iranischen Kultur
verbunden und dichtet in Persisch. Iqbal wusste genauso gut wie Goethe, dass
der Dialog mit dem "Anderen" keine Anpassung bedeutet, sondern der
Dialog mit der Wahrnehmung der Unterschiede, ihrer Akzeptanz und der
Kreativität an der Auswahl beginnt. Iqbal lebte zwar im kolonialisierten Indien
und war, wie er sich ausdrückte, aus der "toten Erde" gewachsen, doch
verkürzte er die westliche Kultur nicht auf ihren kolonialistischen Aspekt. Aus
seiner Sicht war der Westen, abgesehen davon, ob man ihn ablehnt oder
akzeptiert, die Heimat der Denker wie Schopenhauer, Nietzsche, Tolstoi, Hegel,
Marx, Byron, Comte, Einstein, Petofi, Locke, Kant und Browning. Er brachte sie
mit den großen Denkern des Ostens wie Rumi und Hafis ins Gespräch und versuchte
auf diesem Wege, die Unterschiede zwischen der westlichen und östlichen
Denkweise aufzuzeigen. Dieser Zwiespalt zwischen Goethe und Hafis
beziehungsweise Iqbal ist ein hervorragender echter Dialog zwischen den
Kulturen und Zivilisationen (...)
Dialog und Kontakte, von denen wir
sprechen, gehen über die wirtschaftlichen und kommerziellen Kontakte hinaus,
die durch die Notwendigkeiten des Lebens und die materiellen Bedürfnisse
entstehen. Das Thema kann sich nicht einmal auf die
wissenschaftlich-kulturellen Kontakte beschränken, die durch das
Erkenntnisinteresse zustande kommen. Das sind gewiss notwendige Kontakte, die
Kontakte ohne
Herz und Gefühl können manchmal
zur Hegenomie und zum Kolonialismus führen, wie es
die Geschichte der öst-westlichen Beziehungen leider
belegt.
Glücklicherweise haben viele
westliche Denker bewiesen, dass die Erkenntnisse in Bezug auf Mensch und Natur
unterschiedlich sind. Die Mitmenschen kann man nicht wie die Objekte der Natur
als Dinge betrachten. Wenn der Mensch erkannt werden soll, bedarf man einer
anderen Art der Erkenntnis, die man als Verstand bezeichnen kann. Menschliche
Handlungen, Institutionen, Bräuche und Kulturen, die aus seinem Wirken, seiner
Vernunft und seinem Willen hervorgehen, sind bedeutungstragende Elemente, deren
Erkenntnis des Verstehens dieser Bedeutungen bedarf. Große islamische und
iranische Denker haben diesen Umstand mit anderen Worten beschrieben, indem sie
das Mitfühlen höher bewertet haben als das Mitsprechen. Mitgefühl entsteht
dort, wo der Mensch über die Form der Wörter hinaus die dahinter versteckten
Bedeutungen zu begreifen versucht.
Iranische und islamische Denker
haben eine weitere Botschaft, und sie lautet: Die Erkenntnis des
"Anderen" geht mit der Selbsterkenntnis einher. Die Erkenntnis des
Anderen macht uns bewusster über uns selbst, und die Selbsterkenntnis verstärkt
wiederum unsere Erkenntnis über das Andere, denn in der Welt der Menschen gibt
es im Gegensatz zur Welt der Dinge kein absolutes "Anderssein".
Solange wir die anderen menschlichen Wesen als "absolut anders" sehen
und sie als materielle Objekte betrachten, können wir nicht zu einer Erkenntnis
mit Verstand - die im Bereich der menschlichen Erkenntnis liegt - gelangen. Die
Selbsterkenntnis bewegt sich in zwei Richtungen. In der einen Richtung sehen
wir uns in dem Anderen. Aus dieser Sicht erkennen wir die Handlungen, das
Verhalten und die Bedeutungen, die dahinter stecken. In der anderen Richtung
sind wir selbst das Objekt der Erkenntnis. Wir betrachten uns von außen und mit
Distanz. Daher geht die Selbsterkenntnis stets mit der Selbstkritik einher
(...)
Aus diesem Blickwinkel können
viele Hauptprobleme unserer Zeit in neuer Sicht betrachtet werden. Das
Verhältnis zwischen Moderne und Tradition, Freiheit und Gerechtigkeit, Religion
und Demokratie, Spiritualität und Fortschritt gehört dazu. Nun soll in vielen
östlichen und westlichen Gesellschaften der Diskurs "Moderne und
Tradition" mit allen seinen Voraussetzungen und Notwendigkeiten an die
Stelle des Diskurses "Orient und Okzident" aus der Zeit von Goethe
und Iqbal treten. Der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne, der eher eine
kulturelle und zivilisatorische Bedeutung hat, ist im Vergleich zum Gegensatz
zwischen Ost und West, der hauptsächlich politisch gemeint ist, ein wichtiges
Thema unserer Zeit.
Einst sagten die
propagandistischen Dichter der Kolonialzeit wie Rudyard Kipling in
dichterischer Sprache: "Ost ist Ost, West ist West, sie werden nie
zueinander kommen." Der Glaube an eine bipolare Welt und das Aufgehen
aller Kulturen und Zivilisationen in der herrschenden Kultur der Welt ist eine
andere Variante dieser ethnozentrischen und fanatischen Sichtweise. Auch damals
sprachen die Denker des Dialogs eine andere Sprache. Goethe dichtete:
"Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident." Iqbal schmückte die
erste Seite seiner "Botschaft des Ostens" mit dem Koranvers
"Gottes ist der Osten und der Westen", um die Inspirationsquelle des
deutschen Dichters zu zeigen. Beide Dichter wollten den Ort zeigen, an dem der
Osten und der Westen zueinander finden.
Dieser gemeinsame Ort ist der
göttliche Ursprung aller Menschen. Das Gefühl des Andersseins, das der Osten
und der Westen füreinander haben, wird dann aufgehoben, wenn beide sich nicht
nur als eine absolute Erscheinung betrachten, sondern sich im Verhältnis zum
anderen und beide im Verhältnis zu diesem gemeinsamen Ursprung sehen. So können
Ost und West einander vervollkommnen. Wie ich im vergangenen Jahr bei der Unesco sagte: "Wenn der Dialog als ein neues Kapitel
in den Beziehungen der Weltgemeinschaft sein soll, so muss er von der Phase der
negativen Toleranz in die Phase der gegenseitigen Hilfe eintreten. Kein Volk
der Welt kann mit irgendeinem philosophischen, politischen und wirtschaftlichen
Argument an den Rand dese Geschehens geschoben
werden. Die anderen soll man nicht nur tolerieren, sondern auch mit ihnen
zusammenarbeiten."
Heute nehme ich auch jenes
historische Beispiel und die Notwendigkeit zu Hilfe und sage, solange die
Tradition und die Moderne sich als absolut betrachten und sich als das absolut
Gute und die anderen als das absolut Böse bezeichnen, können sie weder sich
selbst noch das Andere erkennen. Die Kritik der Tradition in unserer Welt ist
unvermeidbar. So verhält es sich auch mit der Kritik der Moderne. Doch die
Kritik der Tradition ohne Kenntnis der Tradition, die Kritik der Moderne ohne
Kenntnis ihrer Grundlagen und Ansätze sind unmöglich.
Glücklicherweise belegt die
deutsche Geistesgeschichte erfolgreiche Ansätze bei der Betrachtung der
Tradition und der Moderne. Die deutschsprachigen Denker haben nicht nur auf dem
Gebiete der Theologie, des Verständnisses der Religion und der religiösen
Tradition neue Horizonte geöffnet, sondern der Entwicklungsprozess des modernen
Denkens in Deutschland war hauptsächlich mit dem Streben nach einer Erklärung
seines Verhältnisses zur Tradition und dem Angebot einer umfassenden Sicht
gepaart, die Tradition und Moderne in sich aufzunehmen und ihren Gegensatz
aufzuheben.
Die historische Richtung des
Denkens in Deutschland führte dazu, dasss die
deutsche Philosophie stets einen kritischen Ansatz hatte. Dass diese Kritik
nicht nur die Tradition, sondern auch stets die Moderne einbezog, war die
Ursache dieser großen geistigen Hinterlassenschaft. Die wichtigen Strömungen
der Kritik der Moderne haben ihren Ursprung in diesem Sprachgebiet, obwohl auch
sie sich der Betrachtung der objektiven Fragen und Bedürfnisse der Zeit nicht
enthalten. Diese Ansätze und Erfahrungen können für die heutige Welt
wegbereitend sein, denn wir können uns weder der Tradition noch der Moderne
unterwerfen, aber auch nicht die eine der anderen opfern.
Die Erfahrung der Islamischen
Revolution im Iran hat ein neues Kapitel in diesem Bereich aufgeschlagen. Die
neue religiös-gesellschaftliche Ordnung wurde im Iran etabliert, um auf die
sich immer erneuernden Bedürfnisse und Fragestellungen des heutigen Menschen Antworten
zu finden. Der Revolutionsführer, Imam Chomeini,
bestand sowohl auf der Erhaltung der Grundlagen der Religion als auch auf der
Rolle des Volkes in der Gesellschaftsordnung. Das ist eine Lösung, die im
heutigen Iran experimentiert wird: die Etablierung der Volksherrschaft im
Einklang mit den traditionellen geistig-religiösen Grundlagen der Gesellschaft
mit gleichzeitiger Entwicklung einer modernen Zivilgesellschaft. Diese Lösung
kann einerseits den Islam aus dem Engpass der versteinerten und rückwärts
gewandten Ansichten befreien und andererseits den wahren Islam vor
Eigensinnigkeiten und Isolationssucht schützen. Reformen im Iran sind
Bestrebungen nach Verwirklichung der Freiheit, Gerechtigkeit und
Volksherrschaft im Einklang mit der Religion. Die Reformen sind die Botschaft
des friedlichen Zusammenlebens in der Welt im Einklang mit den
geistig-moralischen Werten. Reformen sind die Verteidigung der Menschenrechte
und Aufforderung zur Rationalität und Vernunft. Reformen sind die Überwindung
der Armut und der Diskriminierung. Sie sind die Verteidigung der Bürgerrechte
und die Bemühung um die soziale Gerechtigkeit. Und das alles auf der
religiös-zukunftsgerichteten Grundlage im Einklang mit den Menschen von heute
und morgen, fordert von uns ein neues Experiment. Bei diesem Experiment
brauchen wir die Zusammenarbeit aller Denker und Gesellschaften, die den Dialog
und die Verständigung suchen und hoffen, dass diese Bemühung zur Aufwertung der
internationalen Dialoge und Beziehungen und zur Schaffung einer Welt ohne
Gewalt, Diskriminierung und Vorherrschaft beitragen.
taz Nr. 6190 vom 12.7.2000 Seite 3
430 Zeilen
Dokumentation Mohammad Chatami