GEDANKEN  FÜR  DEN  TAG

aus Anlass des Geburtstags des Propheten Mohammed
Juni 2000

 

Text 1:

Wer kennt schon in einer Großstadt seine Nachbarn? Ja, sicher, man sagt sich guten Morgen, weil man ja schließlich Tür an Tür wohnt - aber ich selber ertappe mich oft dabei, dass ich Nachbarn nicht erkenne, wenn ich sie draußen auf der Straße sehe. Und vielleicht erkennen sie mich ja auch nicht, die Nachbarn - sie kommen und gehen, ziehen aus, und plötzlich wohnt dann jemand anderer da - Fremde vielleicht? Soll man diese Leute grüßen? Warum grüßen sie denn nicht zuerst?

Längst ist die Unpersönlichkeit und Grußlosigkeit der Städte eine globale Erscheinung geworden.

Doch ein Gruß kann ein Anfang sein, wenn Menschen einander begegnen. In der islamischen Kultur zum Beispiel ist die Standard-Begrüßung. "Salam alaikum!" - Friede sei mit Euch! - diesen Gruß hat der Prophet Mohammed den Leuten ans Herz gelegt. Ein Muslim soll aber nicht nur den Anhängern seiner eigenen Religion "Salam" - also Frieden wünschen. Als Mohammed einmal an einer Gruppe vorbeiging, wo Muslime und Juden, aber auch heidnische Araber und Götzenanbeter beisammen standen, grüßte er sie mit "Salam alaikum". - Den Friedensgruß allen zu entbieten, egal ob man die Leute kennt oder nicht, gilt nach einem Prophetenwort als eine der besten Handlungen - als ein Schritt, um Fremdheit und Hass zu überwinden. Mohammed sagte: "Ihr werdet nie wahrhaftig gläubig sein, wenn ihr nicht einander liebt. Soll ich euch etwas empfehlen, wodurch ihr einander lieben lernt? Verbreitet unter euch den Friedensgruß!"

Dieser Brauch hat sich nun ca. 1400 Jahre erhalten, und zwar über Ländergrenzen und Sprachbarrieren hinweg. Ich bin immer ein bisschen enttäuscht, wenn Muslime meinen, mich auf "moderne" Art mit "Guten Tag" oder "hallo!" begrüßen zu müssen. Der schöne Gruß "Salam" - also "Friede" - sollte wirklich nicht dem Modernismus des 20. oder 21. Jahrhunderts geopfert werden.
 

Text 2

Ob in modernen Wohnblöcken oder in alten Mietshäusern - was die Nachbarn daneben treiben, kann einen schon manchmal stören. Besonders muslimische Nachbarn werden oft mit Argwohn betrachtet - meist sind sie ja Ausländer oder Zuwanderer, die Frauen kleiden sich anders, die Kinder sind - gelinde gesagt - lebhaft, und die Familien haben oft viel Besuch. Dann wird noch gekocht und auf dem Gang riecht es "orientalisch" - also nicht nach Schweinsbraten, sondern womöglich nach Lammbraten und nach exotischen Gewürzen.

"Wenn du eine Suppe kochst, gib etwas Wasser dazu und denk' an deine Nachbarn", hat der Prophet Mohammed gesagt. In muslimischen Ländern ist es Brauch, zu den Feiertagen Speisen, vor allem Süßigkeiten, an die Nachbarn zu verteilen: dann wandern kleine Schüsseln mit aromatischem "Halwa" oder "Baklava" hin und her. - Eine muslimische Bekannte hat mir erzählt, sie würde gern auch einmal den "anderen", nicht-muslimischen Nachbarn etwas von den Leckereien zum Kosten geben, aber sie weiß nicht, wie sie das anfangen soll, denn zwischen ihr und ihren Nachbarn findet praktisch kein Gespräch statt. - Eine sprachgewandte türkische Hausmeisterin dagegen hat diese Barrieren längst abgebaut: in ihrem Haus beschenkt man sich, wie die jeweiligen Feste eben fallen, man tauscht Weihnachtsbäckerei gegen orientalische Süßigkeiten.

"Beschenke die Nachbarin, die deiner Tür am nächsten ist", hat Mohammed einmal seiner Gattin geraten. Seine Familie tauschte sowohl mit muslimischen als auch andersgläubigen Nachbarn Speisen und kleine Geschenke aus.

Nachbarschaftshilfe war und ist jedoch in erster Linie eine soziale Verpflichtung. Mohammed sagte: "Wer morgens aufsteht, ohne sich um die Angelegenheiten der Gemeinschaft zu kümmern, ist kein Gläubiger. Und wer abends satt zur Ruhe geht, während sein Nachbar hungert, gehört nicht zu meiner Gemeinde.".
In dieser Woche gedenken die Muslime Mohammeds Geburtstag und viele werden ihre Nachbarn, vor allem aber die Kinder, die Bedürftigen und die Armen beschenken.
 

Text 3

Gastfreundschaft und Asyl sind den Muslimen heilig. Im Islam ist es nicht nur empfohlen, Verwandte und Freunde gastlich aufzunehmen, sondern auch Fremde und Reisende. Menschen unterwegs werden im Koran oft "Sohn des Weges" genannt - sie mit Speis' und Trank und anderem Nötigen zu versorgen, gilt als verdienstvoll. In den frühen Jahrhunderten der islamischen Geschichte waren Reisen äußerst beschwerlich und mit vielen Risiken verbunden. Handel und Pilgerfahrten ließen eine rege Reisetätigkeit entstehen, und innerhalb der islamischen Welt gab es ja damals keine Grenzen, keine Reisepässe, einfach keine Nationalstaatlichkeit. In dem Riesenreich konnte man sich frei bewegen; und weil sich muslimische Geografen, Botaniker und Zoologen, aber auch Mediziner und Philosophen diesen Umstand zunutze machten, waren ihre Werke zum Teil so universal, dass sie bis in die abendländische Geistesgeschichte hinein wirkten. In der Fremde verdingten sich solche Forschungsreisende oft in verschiedenen Berufen, um ihre Ausbildung oder die Weiterreise zu finanzieren - "Gastarbeiter" oder "Werkstudenten" würden wir heute sagen.

Die islamische Tradition, Menschen Asyl zu gewähren, auch wenn sie anderer Überzeugung oder sogar Feinde sind, geht auf den Koran zurück. Asyl muss respektiert werden. Sogar wenn man die Geste eines Muslims als Einladung versteht, muss man aufgenommen werden, auch wenn es gar nicht so gemeint war. - Diese Haltung ist aber nicht nur Geschichte - auch in unserer Zeit haben manche muslimischen Länder Asiens und Afrikas mehr Flüchtlinge aufgenommen als man in Europa wahrhaben will.

Doch menschliche Beziehungen, auch zu Fremden, können nicht nur von Verträgen und Bestimmungen geregelt werden. Der Prophet Mohammed, dessen Geburtstag die Muslime heute gedenken, bezeichnete einmal ein freundliches Lächeln als ein Geschenk an den Nächsten, und er sagte: "Wenn jemand Freundlichkeit vorenthält, ist es so, als würde er jeglichen Segen vorenthalten."
 
 

GEDANKEN  FÜR  DEN  TAG
16.6.2000  (von der UNO zum "Tag des Flüchtlings" erklärt)

Text 4

Die Lebensgeschichte Mohammeds liest sich so, als wäre sie gerade für diesen Gedenktag geschrieben. Sein Vater starb schon vor der Geburt des Kindes. Erst ein paar Tage alt, wurde Mohammed einer Amme übergeben, einer Beduinenfrau, die ihn mitnahm zu ihrem Stamm. Denn Mekka, die Heimatstadt des Propheten, war damals ein staubiger Handelsknotenpunkt mit ungesundem Klima, in dem Babies oft nicht lange überlebten. Nachdem er seine ersten Lebensjahre mit umherziehenden Nomaden verbracht hatte, kam er mit 5 oder 6 Jahren nach Mekka zurück - doch bald darauf starb seine Mutter. Als Waise wuchs er bei Verwandten auf und ging schon in seiner Jugend auf weite Handelsreisen.

Als Kaufmann war Mohammed erfolgreich und wurde ein geachteter Mann. Er heiratete ein wohlhabende und einflussreiche Frau und hätte wohl ein bequemes Leben führen können. Doch er hatte an den Praktiken seiner Zeitgenossen manches auszusetzen: die Geschäftemacherei, die um die alten Kultstätten Mekkas blühte, widerte ihn an, ebenso die großen sozialen Unterschiede in der Gesellschaft, in der Frauen und Sklaven auf der untersten Stufe standen. Diese Welt war für Mohammed nicht in Ordnung; er machte sich Gedanken, meditierte in einer Höhle in den Bergen und hatte schließlich ein überwältigendes Offenbarungserlebnis. Zunächst glaubte nur eine Handvoll Außenseiter und Unterdrückter an ihn. Als Mohammed begann, von einem einzigen, gerechten Gott zu predigen, vor dem alle gleich seien, hielt man ihn für verrückt - doch als er forderte, auch in dieser Welt müssten alle ihre Rechte haben, da brachte er das Weltbild der herrschenden Aristokraten völlig ins Wanken.

Er und seine Familie wurden in die Verbannung geschickt. Dem Propheten des Islam wurde damit ein Schicksal zuteil, das in der heutigen Welt leider zu oft seine Parallelen findet: nachdem er öffentlich seine Überzeugung bekundete und es wagte, die Mächtigen zu kritisieren, wurde er verfolgt und ausgestoßen. Doch das war erst der Anfang. Von seiner Auswanderung möchte ich morgen erzählen.
 

Text 5

Die Verfolgung Andersdenkender ist keine neue Erscheinung. Mohammed, der Prophet des Islam, hatte ebenso darunter zu leiden wie andere Religionsstifter vor ihm und große Denker nach ihm. In seiner Heimatstadt Mekka wurde solcher Druck auf ihn und seine kleine Gemeinde ausgeübt, dass eine seiner Töchter mit einer Gruppe von etwa 70 Muslimen Arabien verließ und in Äthiopien Zuflucht suchte. Der Negus, Äthiopiens christlicher König, nahm die Flüchtlinge freundlich auf. Die Muslime konnten so lange in ihrem christlichen Gastland in Sicherheit leben, bis ihnen Jahre später die Rückkehr nach Arabien möglich war.

Die eigentliche Geschichte des Islam und auch seine Zeitrechnung beginnt mit der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina. Einige der Einwohner der Stadt hatten bereits den Islam angenommen - ihre Solidarität mit den mittellosen Auswanderern ging so weit, dass sie ihnen die Hälfte ihres Besitzes abtraten. - Doch in Medina erwartete man sich auch etwas von dem Zuwanderer, von dessen Fähigkeiten man schon viel gehört hatte. Die Bevölkerung dieser großen Oase war verfeindet und suchte einen unparteiischen Friedensstifter. Mohammed setzte eine Art Verfassung auf, die den Stämmen und Volksgruppen sowie den dort lebenden Juden und Andersgläubigen gleiche Rechte und Pflichten gab. So erhielt Medina erstmals eine Rechtsordnung und entwickelte sich zu einem Stadtstaat, der in vieler Hinsicht "basis-demokratisch" war - wie man heute sagen könnte.

Mohammed, der einst selbst ein Flüchtling war, nahm an seinen früheren Feinden in Mekka keine Rache. Ein Anlass, auch auf islamischer Seite über Toleranz nachzudenken, denn die Aussprüche und die Lebenspraxis des Propheten gelten den Muslimen als Vorbild. Allerdings auch ein Grund, die heute in Europa lebenden Muslime mit anderen Augen zu sehen. Viele von ihnen sind nicht freiwillig hier, sind Flüchtlinge und Vertriebene  - möglicherweise Nachbarn?
 

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Jamila L. Abid