1
Über die Ursachen von Gewalt in der Politik
Murad Hofmann
(aus: AL-ISLAM. Zeitschrift von Muslimen in
Deutschland Nr.6/2001)
I.
1. Es
gibt Ereignisse so entsetzlich, dass wir darüber vor Entgeisterung stumm werden
-und manche an der Güte Gottes, ja Seiner Existenz zu zweifeln beginnen. Dies
war der Fall bei dem fürchterlichsten -Erdbeben, das 1755 Lissabon zerstörte
und 30. 000 Opfer forderte. Nicht anders war es 1906 bei der Verwüstung San
Franziskos durch Erdbeben und Brand. In der Ursachenkette dieser Unglücksfälle
gab es keine Menschen. So konnten sie als "Höhere Gewalt", "an
act of God", verstanden werden, nicht zuletzt dank Schriften zur
"Rechtfertigung Gottes", Theodizee genannt, wie erstmals 1697 von
Gottfried Wilhelm Leibniz. Man fragte: Will Gott solche Naturkatastrophen nicht
verhindern - oder kann Er es nicht ? Sind sie
göttliche Strafe? Passen sie in Seinen Heilsplan.
2. Noch
betroffener sind wir, wenn Mitmenschen ein Desaster mit auslösen. Schlimm
genug, wenn dies unabsichtlich geschieht. Aber alle sind empört, wenn
unfaßliche Katastrophen wie 1945 die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki
durch Atombomben absichtlich herbeigeführt werden. Die damalige Tötung von
274.000 japanischen Zivilisten war der bisher schlimmste Fall von staatlichem
Terror. Nun hat die Vereinigten Staaten selbst der schlimmste Terrorangriff
getroffen, den eine nichtstaatliche Organisation je ausgeführt hat. Es ist eine
bezeichnende Freud'sche Fehlleistung, dass der Platz, an dem die Türme des WTC
gestanden hatten, mit einem Fachbegriff der Nuklearstrategie "ground
zero" genannt wurde, d.h. Explosionszentrum .
3. Es
gibt Verbrechen wie der Holocaust, die so gräulich sind, dass man sich gegen
eine Analyse ihrer Ursachen sperrt. So fürchten jüdische Organisation,
dass die Aufdeckung der historischen Wurzeln der deutschen Judenverfolgung auf
eine Art Rechtfertigung hinauslaufen könnte. Sagt man nicht, wenngleich zu
Unrecht: "Alles verstehen, heißt alles verzeihen"? Daher will man den
Holocaust wie eine Ureruption des Bösen unbearbeitet stehen lassen
-dokumentiert, ja, aber nicht erläutert.
4. Mit
dem Terrorangriff vom 11. September 2001 verhält es sich ähnlich. Im Gegensatz
zu Diskussionen im europäischen Fernsehen fragte man im amerikanischen TV kaum
je nachUrsachen und Zielen der Anschläge. Sie waren unverzeihlich böse; das
genügt. Obwohl die getroffenen Gebäude höchsten Symbolwert hatten, wurden die
Angriffe als "sinnlos" bezeichnet - als seien offenbar intelligente
Attentäter bereit, ihr Leben ziellos zu opfern. Man forderte nicht Analyse,
sondern Rache, so massiv, dass 21 in den USA studierende oder arbeitende
Mitglieder der angesehenen großen Bin Ladin Familie vom FBI in Schutzhaft
genommen und kollektiv nach Saudiarabien repatriiert werden mußten. Es war
Absicht dieser verengten Medien-Perspektive zu verhindern, dass Israel als
mögliche Quelle des Hasses auf Amerika auch nur erwähnt würde. Das erinnert an
Aldous Huxley's Feststellung, dass Wahrheit etwas großes
sei; größer für die Praxis sei aber das Stillschweigen über die Wahrheit.
Glücklicherweise haben einige Publizisten wie Robert Fisk, Seumas Milne,
Jonathan Power und Norman Salomon das Stllle-Schweigen der Wahrheit aber doch
gebrochen und mit dem Finger auf die empörend parteiische amerikanische
Nahostpolitik gezeigt.
5. Das,
was am 11. September geschah, ist unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen,
auch nicht als eine Kriegshandlung in einem unerklärten Krieg gegen Amerika.
(Übrigens wertet man Terroristen nicht nur auf, sondern unterstellt sie den
Schutzbestimmungen des Kriegs-Völkerrechts, wenn man sich zum
Kriegsgegnern gegen sie macht.) Trotzdem müssen wir uns bemühen, den
Mechanismus zu verstehen, der zu dieser Gräueltat geführt hat, schon um Wiederholungen
zu vermeiden. Solches Bemühen um Verstehen hat mit Billigen nichts
zu tun. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass es nicht Muslime sind, welche die
Welt vor allem mit Terror überziehen. Laut Statistik wurden die weitaus meisten
Attentate gegen amerikanische Einrichtungen bisher in Lateinamerika verübt.
Allerdings nennt man die dortigen Attentäter - wie diejenigen in Nordirland, im
Baskenland und auf Corsika - niemals "christliche Terroristen". Bin
Laden gilt als "Moslem- Terrorist", doch Slobodan Milosevic nicht als
"christlich-orthodoxer".
Dieser
Doppelstandard erweckte den falschen Eindruck, Terror sei muslimische
Spezialität.
Damit
will ich nicht behaupten, dass es dafür keinerlei realen Hintergrund gebe.
"Wo Rauch, da auch Feuer", sagen die Amerikaner. Die relativ hohe
Zahl von Attentätern aus dem muslimischen Umfeld hat jedoch nichts mit der
Weltreligion Islam zu tun, sondern damit, dass Muslimen in dieser Welt
überdurchschnittlich häufig Unrecht angetan wird.
II
1. Es
ist. durchaus verständlich, dass man Religion unter die Lupe nimmt, wenn man
die Ursachenpolitischer Gewalt dingfest machen will; war Religion doch lange
und oft tatsächlich die Ursache staatlicher Gewalt. Religiöse Überzeugungen
haben im Verlaufe der Geschichte viel Blut gekostet. So ist die christliche
Doktrin "extra ecclesiam nulla salus“ vielen unschuldigen "Heiden"
zum Verhängnis geworden, nicht nur im Sachsenland, sondern auch in Mittel- und
Südamerika, Palästina und Andalusien. Auch die Kreuzzüge - von einem Papst
losgetreten und offiziell gepredigt -führten zu unsäglichen Massakern wie bei
Eroberung Jerusalems am 15. Juli 1099. Auch die osmanischen Feldzüge ins Herz
von Mitteleuropa fanden ihre religiös getönte Rechtfertigung, wenn es auf
islamischer Seite auch nicht üblich war, Waffen zu segnen, und der Islam die
Begriffsbildung "sacrum bellum", also "Heiliger
Krieg", nicht kennt. (Was niemand daran hindert, diesen Begriff des
lateinischen Kirchenrechts Muslimen überzustülpen.)
2. Doch
all dies liegt Gott-sei-Dank fast hinter uns. "Fast", weil es sich
bei dem serbischen Versuch"ethnischer Säuberung" nachweislich um
einen anti-islamischen Religionskrieg gehandelt hat, so wie es auch bei den
Konflikten im Kosovo, in Mazedonien und in Tschetschenien immer wieder
religiöse Motive gibt. Im großen und ganzen hat die Weit
jedoch das Zeitalter der Religionskriege überwunden. Zum neuen ökumenischen
Zeitalter, der Wertschätzung von religiösem Pluralismus, hat nicht nur die
Aufklärung, sondern haben die Religionen selbst
beigetragen. So hat die Katholische Kirche während des 2. Vatikanischen Konzils
die Doktrin aufgehoben, wonach außerhalb der Kirche kein Heil zu finden sei,
und den Islam schlußendlich als einen Weg zum Heil anerkannt.
3. Was
den Islam anbetrifft, hatte er streng genommen seit jeher Gewalt nur in zwei
Fällen erlaubt:
a) zur
maßvollen Abwehr eines Angriffs von Außen (2: 194) und
b) zum
Widerstand im Inneren gegen rechtswidrige Unterdrückung durch ein
Unrechtsregime.
Der
Islam erlaubt also keine Aggression, sondern ausschließlich Verteidigung (4:
90). Allerdings ist die Welt jetzt ein solches Dorf, dass nicht immer zwischen
einem Angriff von außen und Unterdrückung im Inneren, also einem
Weltbürgerkrieg a la Bin Laden, klar zu unterscheiden ist.
Muslime
sind durch den Qur'an aber in allen Fällen dazu verpflichtet, in Fragen des
Glaubens auf Zwang zu verzichten (2: 256) und die Mitglieder anderer Religionen
nicht nur zu tolerieren, sondern zu beschützen.
Am
wichtigsten in diesem Zusammenhang ist das absolute qur'anische Verbot von
Selbstmord (4:29) und der Tötung Unschuldiger. Auf Mord steht Todesstrafe (2:
178) und im Jenseits die Hölle (4: 93). Der Mörder eines einzelnen wird
betrachtet, als habe er die ganze Menschheit umgebracht (5:32)
Das
bedeutet nicht notwendig, dass die Attentäter vom 11. September keine Muslime
waren - das Urteil darüber steht Gott alleine zu. Aber wir wissen, dass ihr
Vorgehen von ihrer Religion weder gefordert noch gerechtfertigt war, sondern
sündhaft und unislamisch. Es war daher zutreffend festzustellen: "Terror
hat keine Religion".
4.
Keine Religion ist allerdings davor gefeit, dass sich einige ihrer Anhänger,
die sich sogar als besonders gute Gläubige wähnen mögen, ihre Religion
fanatisieren und so pervertieren. Auch der Islam kann .
davon ein trauriges Lied singen. Schon 'Umar ibn al-Khattab, der 2. Kalif,
wurde von einem Extremisten in der Moschee ermordet. Ermordet wurde auch der 4.
Kalif, 'Ali b. Abi Talib, und zwar durch einen Fanatiker der puritanischen Sekte
der Khari-dschiten. Beides waren Sektierer, die jeden Muslim mit abweichender
Ansicht zum Ungläubigen (kafir) deklassierten, obwohl gerade dies vom Qur'an
ausdrücklich verboten ist (4: 94).
In den
Wirren der Kreuzzugs- und Mongolenzeit traten im Nahen Osten die sog.
Assassinen auf. Das Wort, auf das die englischen und französischen Verben für
"ermorden" (to assassinate /assassiner) zurückgehen, leitet sich vom
arabische Haschhasch (Haschisch) ab, - denn diese frühmittelalterlichen
Glaubensfanatiker wurden unter Haschisch-Einfluß als Selbstmordattentäter auf führende
Persönlichkeiten ihrer Zeit -wie Salah ad-Din und den iranischen Wasir Nizam
al-Mulk losgelassen.
Muß man
'Usma bin Ladin in diese muslimisch gefärbte Genealogie des Terrors einordnen?
Kurz nach dem 11. September wurde ich -selbst aus Singapur -um telefonische
Stellungnahmen gebeten. Ich lehnte jeweils mit der Begründung ab, ich sähe
zwischen dem Anschlag und der Religion des Islam keinen Zusammenhang -und
wollte auch keinen herstellen. Das war vielleicht geschickte Vorneverteidigung.
Aber so einfach können wir Muslime unseren Kopf nicht aus der Schlinge ziehen -
denn wenn der Islam für den Anschlag auch nicht ursächlich war, so wuchs er
doch in muslimischem Umfeld.
Interessanterweise
schrieb Fatih Güllapoglu in einer Istanbuler Zeitung, dass er wie viele andere,
die Bin Laden am fernsehen beobachteten, von seiner Charismatik, milden Art,
ruhigen Gestik, leisen Sprechweise und seinen beseelten Augen positiv
beeindruckt worden sei. Kein Eiferer wie Hitler, Mussolini, Trotzki oder
Castro! Es mag erschrecken, aber Bin Ladens grenzenloses Gottvertrauen, seine
jenseitsorientierte, unbegrenzte Opferbereitschaft, sein Sendungsbewusstsein
und seine islamische Diktion erinnern stark genau an die Tugenden, welche die
Gefährten des Propheten auszeichneten, die ebenfalls einen Gegenpol zur
Konsumgesellschaft ihrer Zeit darstellten.
Und
doch - das ist das Erschreckend daran -ruft Bin Laden zugleich zum Töten auf
und lässt Selbstmordkandidaten schulen. Er und seine Mitarbeiter gehören gewiß
nicht zu den von Allah gewünschten "Volk der Mitte" (2:142), sondern
sind in Extremismus abgeglitten. Damit
verstoßen
sie gegen ein weiteres kardinales Verbot des Qur'an: La taghlu fi diniktum ! , d.h.
"übertreibt nicht (seid nicht maßlos / geht nicht zu weit) in euerer
Religion" (4: 171).
5. Ich
erinnere mich an die Nachkriegsjahre, Damals wurde quasi das ganze deutsche
Volk unter Anklage gestellt und mußte im Zweifel "entnazifiziert"
werden. Weniger in der Theorie als in der Praxis gingen die Siegennächte von
deutscher Kollektivschuld aus. Angesichts dieser spezifisch deutschen Erfahrung
möchte ich hoffen, dass Muslime hier nicht kollektiv verdächtigt werden,
geborene Terroristen zu sein. Man übersehe nicht, dass viele von ihnen von
Geburt Deutsche sind, und dass viele muslimische Zuwanderer nicht nur als
Wirtschaftsflüchtlinge gekommen sind, sondern weil sie den deutschen
demokratischen Rechtsstaat wertschätzen.
Deutsche,
die jetzt verständlichen Groll gegen Muslime. empfinden, sollten sich Präsident
Bush zum Vorbild nehmen, der schon am 17. September die größte Moschee in
Washington besuchte, den Islam als friedensbringende Religion von über 1 Mrd.
Menschen anerkannte, den großen Beitrag muslimischer Mitbürger würdigte und die
nichtmuslimischen Amerikaner aufforderte, kopftuchtragende Muslimat in der
Öffentlichkeit nicht zu belästigen.
Sie
sollten sich ferner Premierminister Blair zum Vorbild nehmen, der am 27.
September sich verbat, als Christ für in Nordirland begangene Verbrechen
verantwortlich gemacht zu werden, und bekannte, aufgrund eigener Lektüre im
Qur'an eine friedliebende Religion mit universell anerkannten Werten
angetroffen zu haben.
Solche
Äußerungen vertragen sich natürlich nicht mit dem gleichzeitig stattfindenden
Gerede a la Berlusconi von einer überlegenen westlichen Zivilisation bzw .einem
Anschlag auf diese Zivilisation. Mit solchen Verdächtigungen betreibt man
lediglich das Geschäft der Terroristen,
die ja nur allzu gerne den Huntingtonschen "Clash of Civilizations"
verwirklicht sähen. Trotz der Konfrontation zwischen Selbstmordattentätern und
amerikanischer Nuklearmacht, zwischen palästinensischen Steinewerfern und
israelischen Panzern, geht es nicht um einen "monumentalen Kampf zwischen
Gut und Böse" (Bush), sondern um eine gemeinsame Anstrengung für globale
Gerechtigkeit.
III.
1. Nun,
wenn es nicht die Religion und im Okzident auch keine staatlichen Konflikte um
Grenzen, Bodenschätze und Wasser sind, welche das heutige Gewaltphänomen
erklären, was dann? Die Antwort darauf ist einfach, vorausgesetzt, dass man
über seinen europäischen bzw. nordamerikanischen Tellerrand blickt - in die
sogenannte Dritte Welt. Denn diese wird von Armut, Unfreiheit und oft von
schreiender Ungerechtigkeit geprägt.
2.
Armut ist gewiß ein besonderer Nährboden für Gewaltbereitschaft. Man bedenke
daher, dass 1,3 Mrd. Menschen täglich mit weniger als einem Dollar auskommen
müssen, wobei die Schere zwischen arm und reich sich weiter öffnet. Derzeit
verfugen 20% der Weltbevölkerung über 85% des Einkommens und der Ressourcen der
Welt. Um etwas zynisch zu sein: Das, was ein Norweger dank Petroleumrente für
seine Lieblingskatze pro Jahr ausgeben kann, ist doppelt so viel wie das
jährliche Einkommen der Menschen in Schwarzafrika. Daher wird kein Krieg gegen
Terrorismus gewonnen, solange bittere Armut unter einer unablässig wachsenden
Weltbevölkerung grassiert.
3.
Ungerechtigkeit ist weltweit die 2. Hauptursache für politische Gewalt. Pars
pro toto nenne ich Kaschmir, Tschetschenien und Palästina.
a)
Kaschmir: Gegen die Prinzipien der Teilung Indiens 1948 überschrieb der
hinduistische Herrscher sein muslimisches Land an Indien, statt an Pakistan.
Indische Truppen halten das Fürstentum seither besetzt. Indien befolgt keine
der Aufforderungen der Vereinten Nationen, ein Referendum abzuhalten, und
niemand greift ein. Das Resultat ist zunehmende Verzweiflung einer sich
schikaniert und verlassen fühlenden muslimischen Bevölkerung. Auf Gegenwehr zu
verzichten, hieße für sie Unrecht billigen.
b ) Tschetschenien: Als sich die Sowjetunion nach 1990
auflöste, erhielten selbst die zentralasiatischen muslimischen Republiken ihre
Unabhängigkeit, nicht aber das kaukasische Tschetschenien. Seither ficht es für
seine Unabhängigkeit mit Waffen. Dabei kam es zu eklatanten, dokumentierten
Menschenrechtsverstößen der russischen Streitkräfte. Doch niemand greift ein.
Die Verzweiflung der dezimierten muslimischen Bevölkerung, die sich verraten
und verkauft fühlt, steigt rapide. Man nennt sie Terroristen, obwohl sie nichts
anderes tun als der FLN 1954-1962 in Algerien, damals von deutscher Sympathie
begleitet. Ob es sich um Terroristen oder Freiheitskämpfer handelt, ist eben
oft nur eine Frage der Perspektive. Ich vermute, dass die heroisierten
"Minutemen", welche im 18. Jahrhundert in Boston die amerikanische
Revolution auslösten, aus Sicht des britischen Mutterlandes Terroristen waren
und - dies ist absurd! - nach heutiger amerikanischer Definition es auch
gewesen wären.
3.
Palästina: Bekanntlich kam es gleich nach dem 1. Weltkrieg auf Betreiben der
Briten zur Ansiedlung jüdischer Bevölkerung in Palästina, obwohl es keinen
völkerrechtlichen Satz gibt, wonach eine Volksgruppe in ein Gebiet zurückkehren
dürfte, das ihre Vorfahren 2000 Jahren zuvor besiedelt hatten. Sonst müßten wir
möglicherweise Berlin an die Polen herausrücken und die Amerikaner Washington
an die auf dem "trail of tears" vertriebenen Cherokesen. Muhammad
Asad, damals noch Jude namens Leopold Weiss und Reporter der Frankfurter
Zeitung in Jerusalem, wurde 1926 Muslim: aus Protest gegen das ihn empörende
arrogante Verhalten jüdischer Neusiedler gegenüber der palästinensischen
Bevölkerung.
Nach
dem 2. Weltkrieg wurde die Besiedlung zur Flut. Damit entstand die für Deutsche
besonders peinliche Situation, dass man den Palästinensern zumutete, die Zeche
für die Untaten der Nazis an den Juden zu zahlen. Israel wurde zur Kompensation
für den Holocaust auf Kosten der daran völlig unschuldigen Palästinenser. Wer
will ihnen verdenken -und sie zu Terroristen stempeln - dass sie sich gegen
diesen Landraub wehren? Für die Palästinenser war das Kommen der Israelis wie
das Einsickern fränkischer Kreuzritter 800 Jahre zuvor oder frischer imperialistischer
Kolonialismus.
Als
Folge der davon ausgelösten Kriege bewahrheitet sich, was meine Großmutter zu
zitieren pflegte: Dass Böses fortwährend Böses gebären müsse. Denn manches von
dem Bösen, was den Juden in Europa angetan worden war, tun Israelis .jetzt
Palästinensern an. Auch dies ist verständlich, ohne dass man es deswegen
billigen müßte. Schließlich will sich das jüdische Volk keinem zweiten
Holocaust ausliefern. Manche israelische
Intellektuellen sehen diesen tragischen Mechanismus und fürchten sich vor einem
sich von selbst rechtfertigenden Mißtrauen gegenüber allem Arabischen. Wen ich
als Feind behandle, wird es: Man nennt dies "selffulfilling
prophecy".
Vieles,
was die Palästinenser bis aufs Blut peinigt, erfahren wir aus unsere Medien nicht. Sie werden wie Menschen 2. Klasse
behandelt und sind gegenüber den völkerrechtlich illegalen jüdischen Siedlern
weithin rechtlos gestellt. Dass ihr Leben weniger wert ist als ein
israelisches, erleben sie täglich. Trotzdem hat sich das palästinensische Volk
in seiner Mehrheit dazu durchgerungen, sein Land und seine Hauptstadt mit dem
israelischen Staat zu teilen, also mit ihm zu koexistieren. Dies war eine
schwierigere Entscheidung als der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete, der
unter dem Druck des deutschen Schuldbewußtsein
zustande kam. Kein Wunder, dass manche Palästinenser diesen Verzicht nur
zögerlich oder gar nicht mitmachen, zum er ihnen keine Früchte zu tragen
scheint.
Aber
auch sie würden wohl mitmachen, wenn es in und seit Oslo zu einer faireren
Abmachung gekommen wäre, statt der Gründung vieler kleiner Bantustans, der
vielen Schikanen und der Vorenthaltung des größten Teils an Wasser.
Ausschlaggebend ist jedoch die Annektion Jerusalems; denn jeder Palästinenser
ist wie jeder Muslim mit al-Quds ("die Heilige", scil. Stadt) emotional
verbunden, zumal im Qur'an auf den späteren Felsendom und die al-Aqsa-Moschee
Bezug genommen wird. Wer dies vernachlässigt, läßt religiösen Respekt
vermissen.
Doch
was hat sich während des sogenannten Friedensprozesses, seit Oslo nicht alles
ereignet?
- Ost-Jerusalem
wurde förmlich annektiert undjüdisch unterwandert -13. 000 Palästinenser wurden
verhaftet - in der sog. Westbank wurde weitere 50. 000 jüdische Siedler
angesiedelt - die israelisch- Armee zerstörte über 1000 Häuser von
Palästinensern - sie verfolgt eine Strategie der "vorbeugenden
Exekution" ohne Gerichtsurteil - Folter in israelischen Gefängnissen,
früher sogar gerichtlich gebilligt, ist üblich geblieben.
Und die
Zahl palästinensischer Todesopfer steigt seit Sharons kalkulierten Erscheinens
auf dem Tempelberg täglich weiter an; in einem Jahr waren
es über 8000. Gewiß, die Vereinten Nationen haben die israelische Landnahme nie
gebilligt und Israel in zahlreichen Resolutionen zum Rückzug aufgefordert. Aber
Resolutionen zugunsten von Muslimen wurden von den Vereinten Nationen bisher
noch in keinem einzigen Fall erzwungen. Im Gegenteil, ebenso prompt wie früher
die Sowjetunion ihr Veto gegen unliebige Resolutionen einlegte, sind die USA
zur Veto-Schutzmacht Israels geworden.
Wenn
man dann noch erfährt, dass Washington Israel alljährlich mit über $ 4 Mrd.
subventioniert - das sind rund 1000 Dollar pro Kopf der jüdischen Bevölkerung -
und dass die gegen die palästinensische Bevölkerung eingesetzten Waffen
überwiegend aus amerikanischen Waffenlieferungen stammen – kann man sich
ausmalen, dass es nicht nur unter Palästinensern, sondern unter Arabern
allgemein zu einer Verzweiflung kommen kann, die sich in explosivem Haß gegen
die Vereinigten Staaten entlädt. Robert Fisk formulierte es am 12. September im
"The Independent' wie folgt: "Amerika hat die Kriege Israels über so
viele Jahre finanziert, dass es annahm, das bleibe ohne Konsequenz."
Juristisch
gesprochen hält die arabische Welt Amerika aus diesem "vorausgegangenen
Tun" für verpflichtet, Israel in den Arm zu fallen, statt -wie der
Bush-Administration lange vorgeworfen – sich zurückzulehnen. Man kann bei
Handlungspflicht eben auch 'durch Unterlassen schuldig werden. (Darf ich daran
erinnern, dass ich zu erklären, nicht zu rechtfertigen suche?)
Am 2.
September nahm ich an der Schlußveranstaltung der 38. ISNA-Konferenz in Chicago
teil, die von 33.000 amerikanischen Muslimen besucht wurde. Vor mir sprach Paul
Findley, 22 Jahre lang republikanischer Abgeordneter aus Illinois im
Repräsentantenhaus. Er verlas einen Offenen Brief, den er kürzlich Präsident
Bush geschrieben hatte. Darin machte er ihn darauf aufmerksam, dass sich die
Vereinigten Staaten aus Sicht der arabischen Nation mit ihr in einem
unerklärten Krieg befänden -"at war" - und forderte ihn dringend auf,
die bedingungslose Unterstützung Israels durch eine der Gerechtigkeit dienende,
ausgewogenen Nahost-Politik abzulösen. Dem fügte er hinzu: "Es kann doch
nicht sein, dass ein Land wie die Vereinigten Staaten, das seine Freiheit gegen
eine Kolonialmacht erkämpft hat, jetzt im Nahen Osten eine moderne
Kolonialmacht darin unterstützt, einem Volk seine Freiheit
vorzuenthalten." Als ich am 11. September die Bilder von der Zerstörung im
südlichen Manhattan sah, lief es mir in Erinnerung an die Worte Paul Findleys
kalt den Rücken herunter. Hatte er die Katastrophe nicht geradezu vorhergesagt?
Er hatte den Finger auf eine Hauptquelle des internationalen Terrors gegen
amerikanische Einrichtungen gelegt.
Bundeskanzler
Schröder stimmte seiner Analyse in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit
Präsident Mubarak am 25.September in Berlin mit der Feststellung zu, dass der
Nahe Osten der hauptsächlichste Nährboden für Terrorismus sei, und dass dieser
daher nicht militärisch, sondern politisch und wirtschaftlich bekämpft werden
müsse. Bundespräsident Rau hatte wohl auch Israel im Auge, als er schon am 14.
September sagte: "Der beste Schutz gegen Terror... ist eine gerechte
internationale Ordnung. Frucht der Gerechtigkeit wird der Frieden sein!"
'Usama b. Ladin wiederum formulierte den nahöstlichen Zusammenhang kurz nach
Beginn des Gegenschlags am 7. Oktober auf seine Weise: "Solange die
Palästinenser nicht in Sicherheit sind, sollen sich auch die Amerikaner nicht
sicher fühlen können. "
4.
Rache ist eine weitere Ursache für Gewalt, obwohl man annehmen möchte, dass es
in der Politik rationaler zugeht und obwohl das Schreien nach Vergeltung in der
christlichen Weltverpönt ist. Man vergißt dabei leicht, dass "Auge für
Auge, Zahn für Zahn" für Juden gemäß Exodus XXI, 23 ff. ein Glaubenssatz
ist, Rache also nicht nur gebilligt, sondern gefordert wird. Dies erklärt den
Eskalationsmechanismus im Nahen Osten, der oft jedem politischen Kalkül
widerspricht - allerdings nur zum Teil. Es erklärt nicht, warum 10 oder 20
Palästinenser für einen Israeli getötet werden.
Aber
auch in christlichen Ländern hält man nicht immer die andere Wange hin, sondern
schreit nach Vergeltung- "tit for tat ", sagt man in Amerika -
jedenfalls nach besonders widerlichen Verbrechen oder solchen mit besonders viel
Opfern. So war es klar, dass sich die amerikanische Nation erst nach einem
großen Militärschlag wieder wohlfühlen würde, möge er auch militärisch
zweifelhaft, politisch kontraproduktiv und moralisch bedenklich sein oder
nicht. Der Koran distanziert sich im Vers 45 der 5. Sura al-Ma'ida ausdrücklich
vom mosaischen Vergeltungsrecht des "Leben um Leben, Auge um Auge, Nase
für Nase, Ohr für Ohr, Zahn für Zahn", indem er nicht nur die Möglichkeit
barmherziger Vergebung eröffnet, sondern sie mit dem Auslöschen eigener Sünden
belohnt. Selbst bei Mord hat ein islamischer Staat keinen Strafanspruch im
Sinne von "qisas" (gerechter Ausgleich), wenn sich die Familie des
Opfers mit dem Täter über eine friedliche Lösung verständigt (2: 178).
IV.
Zum
Abschluß noch einiges zum Terror als Methode, das mir schon aufgefallen war,
als ich während des Algeriekriegs am damaligen deutschen Generalkonsulat in
Algier sah, wie es einer kleinen entschlossenen Gruppe, dem FLN, gelang, eine
Atommacht durch terroristische Demoralisierung, vor allem der Heimatfront, zum
Abzug zu zwingen. Damals wurden in Algier jährlich etwa 1000 Menschen ermordet,
von beiden Seiten.
1) Der
Mechanismus ist relativ einfach: Terroristen bieten keine Angriffsfläche, sind
also mit konventionellen Streitkräften nicht zu bekämpfen.
2) Ihre
eigenen Mittel sind billig -Terrorismus ist die Waffe der Armen-' aber ungemein
kosteneffektiv, weil der Gegner (und vor allem die gegnerischen Medien)
unwillkürlich im Sinne der Attentäter arbeiten. Eine kleine Bombe genügt, und
schon wimmelt 'es. von Polizisten, die jeden Passanten daran erinnern, dass er
Grund zum Fürchten hat. Das heißt: Die demoralisierende Angst, die sich in
einen Druck der Straße auf Änderung der Regierungspolitik umsetzen soll, wird
von den Medien verstärkt. Man malt den Teufel an die Wand (und beteuert
anschließend, man wolle ja nicht dramatisieren...)
3)
Sobald sich eine Bevölkerung einschüchtern läßt, vervielfältigt sie die
Wirkungen eines Attentats. So geschah es mit dem letztlich irrationalen
Einbruch im Konsum, der Amerika, ja die Weit, stärker in die Rezession trieb.
Solche milliardenschwere Folgeschäden machen Terrorismus –
betriebswirtschaftlich betrachtet - zu einem unheimlich kostenwirksamen
Verbrechen.
Als
jemand, der den Atlantik schon 25mal in westlicher Richtungen überquert und
mehrere Jahre in den USA studiert hat, bin ich allerdings davon überzeugt, dass
man die USA so nicht auf die Knie zwingen kann. Im Gegenteil: Japan hatte den
Krieg schon an dem Tag verloren, an dem es Pearl Harbour hinterhältig angriff;
weil es eine moralische Empörung ausgelöst hatte. Heute ist es ähnlich. Der
Angriff auf das WTC hat die Nibelungentreue der amerikanischen Administration
zu Israel eher zementiert. In diesem Sinne war der Angriff nicht nur ein
ungeheueres Verbrechen, sondern auch eine große Dummheit. Die Terroristen haben
den arabischen Interessen und der Sache der Palästinenser unendlich geschadet.
Nicht
geschadet haben sie Gott-sei-Dank wohl dem Islam - zumindest auf mittlere
Frist; denn dieser ist jetzt in aller Munde, und Qur'an-Übersetzungen sind
Bestseller. Am 3. Oktober, als Nationalfeiertag auch "Tag der Offenen
Moschee", kamen dieses Jahr doppelt so viele Leute wie letztes Jahr, um
sich über den Islam unterrichten zu lassen. Bundeskanzler Schröder empfing erstmals
den Vorsitzenden des Zenralsrats der Muslime in Deutschland (ZMD), Dr. Nadeem Elyas,
und das gleichzeitig mit Kardinal Lehman und Präses Kock. (Das nennt man
protokollarische Aufwertung.)
4) Ein
taktischer Vorteil ergibt sich für Terroristen aus ihrer verzweifelten
Opferbereitschaft.
Man
nannte die Selbstmord-Attentate mit Flugzeugen "feige". Wenn dies
"hinterhältig" bedeuten sollte, stimmt es, sonst nicht. Man mag
fuglich bezweifeln, ob es unter 1,4 Mio. amerikanischen Soldaten 19 gebildete
junge Männer gibt, die zum Selbstmord für "God's own Country" bereit
wären. Das absolute Vertrauen in die eigene Sache, zu Fanatismus gesteigert,
macht also sowohl die mentale Stärke des Terrorismus als auch die Schwierigkeit
seiner Bekämpfung aus; denn man darf beim Kampf gegen Kamikaze nicht selbst
Kamikaze werden. Das wußten wir schon aufgrund des Verhaltens der
amerikanischen, armenischen, irischen, italienischen, japanischen, korsischen,
kubanischen der deutschen RAF- Terroristen.
5) Wir
haben bereits festgestellt, dass gegen die Zivilbevölkerung gerichtete
Terrorakte, wozu Selbstmordanschläge mit unkontrollierbaren Auswirkungen und
Massenvernichtungswaffen zählen, vom Islam mißbilligt werden, weil sie gegen
Gottes ausdrückliches Gebot verstoßen. Es war daher ohne weiteres erkennbar,
dass Usama bin Ladin nicht im Namen Gottes sprechen konnte, als er alle Muslime
öffentlich dazu aufrief, "Amerikaner zu töten, wo und wann es möglich
ist." Wörtlich: "To kill
Americans where they can and when they can.” So war es nach den
Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenya und Tanzania in einer
Fernseh-Dokumentation von PBS unter dem Titel "The Terrorist and the
Superpower" zu sehen und zu hören. Leider hat sich damals kein
prominenter Muslim von dieser Aufforderung zum unqualifizierten Morden
öffentlich distanziert. Dies wäre nicht nur von Vorteil für die muslimische
Ummah gewesen, sondern hätte den Image-Schaden der Muslime mindern können. Es
ist zwar sympathisch, dass Muslime ihrer Ethik entsprechend andere Muslime
ungern öffentlich kritisieren. Das hätte sie allerdings nicht daran hindern
müssen, sich - wenn nicht von Bin Ladin als Person, so doch von seinen Aufrufen
und Methoden zum Töten - als essentiell unislamisch öffentlich zu distanzieren.
No use crying over spilled milk, sagen die Amerikaner. Die
Welt soll wenigstens jetzt wissen, dass es seit Abschaffung des Kalifats durch
Mustafa Kemal im Jahre 1924 keinen einzigen Muslim gibt, der befugt wäre, im
Namen des Islam zu sprechen oder Krieg zu erklären oder gar Unschuldige im
Namen Allahs ermorden zu lassen.
V.
Lassen
Sie mich die wichtigsten Thesen zusammenfassen:
1.
Terrorismus ist ein zeitloses, weltweites Phänomen.
2. Es
gibt nicht nur individuellen, sondern auch staatlichen Terror.
3. So
wie Staaten keine Religion haben, hat auch Terror keine Religion.
4. Der
Islam erlaubt Widerstand gegen Unrecht, verbietet jedoch das Töten
Unschuldiger,
Selbstmord,
Handeln aus Rachsucht und Extremismus.
5.
Terroristen aus muslimischem Umfeld stellen in der weltweiten Terrorszene nicht
die Mehrheit dar.
6.
Hauptwurzel von nichtstaatlichem Terrorismus ist aus Armut und Ungerechtigkeit
geborene Verzweiflung.
7.
Daher kann Terror mit militärischen Mitteln nicht beseitigt werden.
8.
Solange es keinen gerechten Frieden In Palästina gibt, wird es Attentäter aus
dem
muslimischen Umfeld geben. Dabei könnte 'Usama bin
Ladin nach seinem Tod als Mythos noch gefährlicher als zuvor werden. Der
wichtigste Schlüssel für Terrorbekämpfung im muslimischen Umfeld liegt daher
gleichzeitig in Jerusalem und Washington.
Niemand
kann das, was am 11. September geschehen ist, ungeschehen machen. Aber wir alle
können
die Opfer dieses schrecklichen Tages in unser Gebet einbeziehen. Möge Allah,
der
Barmherzige, ihnen gnädig sein.