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19.12.2003:
Beitrag: Religion als Privatsache?
Zur Rolle der Religion im öffentlichen Raum -
von Dr. Murad Wilfried Hofmann
Die heute vielfach gestellte Frage nach der
Rolle der Religion im Staat - Privatsache oder nicht? - fragt letzlich nach
der Bedeutung des Säkularismus. Ich möchte mich dem Punkt mit folgenden
Thesen nähern: Der Säkularismus ist eine weltgeschichtlich junge Erscheinung,
er ist eine in der Welt begrenzte Erscheinung; der Säkularismus funktioniert
entweder als Religionsersatz oder gar nicht, und schließlich ist es an der
Zeit, den Säkularismus als historisches Projekt ernsthaft zu hinterfragen.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat es immer wieder Bemühungen um eine
Entzauberung und Entsakralisierung der Natur gegeben, übrigens auch im Islam;
man denke an lbn Rushd alias Averroes. Doch der Versuch einer radikalen
Trennung von Staat und Kirche, von Staat und Religion, wurde - im Anschluss
an Renaissance, Humanismus, Aufklärung, französische Revolution,
Industrialisierung und Wissenschaftsgläubigkeit (Szientismus) - erst im 19.
Jahrhundert unternommen.
Triebfeder dafür war ein im wesentlichen
europäisch-christliches Phänomen: Ein bürgerlich-republikanischer
Anti-Klerikalismus, der sich gegen das in Europa typische Bündnis von Altar
und Thron richtete. Säkularismus wurde dabei zu einem Bestandteil der
emanzipatorischen Demokratie-Bewegung, von Liberalismus und Kommunismus
zugleich.
Die maßgeblichen Schritte auf diesem Weg wurden erst vor relativ kurzer Zeit
unternommen, nämlich im Jahre 1855 mit der (1917 bestätigten) radikalen
Trennung von Kirche und Staat in Mexiko, sowie am 09.12.1905 mit der
entsprechenden Gesetzgebung in Frankreich. Der türkische Säkularismus, dort
fälschlich „Laiklik“ genannt, datiert aus noch jüngerer Zeit, und zwar aus
dem Jahre 1928, als er zu einer der sechs Säulen des Kemalismus erklärt
wurde. Das Phänomen „Säkularismus“ ist in der Tat so neu, dass es dafür im
Arabischen bis vor kurzem nicht einmal eine Vokabel gab. Inzwischen hat man
aus der linguistischen Wurzel für „die Welt“ (Al-‘Alam) beziehungsweise „weltlich“
(‘alami) immerhin das neue Wort „‘ilmanija“, also „Weltlichkeit“, für das
säkulare Phänomen in Umlauf gebracht.
Wie schon aus diesen wenigen, abschließenden Fällen hervorgeht, ist der
Säkularismus zumindest im radikalen Sinne eine geografisch recht begrenzte
Angelegenheit. Insbesondere Europa hat, mit der einzigen Ausnahme
Frankreichs, die Religion nicht wirklich aus der Öffentlichkeit verbannt. Die
englischen und skandinavischen Monarchen sind nach wie vor Oberhäupter ihrer
anglikanischen bzw. lutherischen Kirchen. Deutschland ist geradezu
vorbildlich mit seiner Integration der Religion in den öffentlichen Raum. Man
denke nur an: • die Erwähnung des Gottesbegriffs im Grundgesetz • die
Einziehung von Kirchensteuer • den staatlichen Schutz kirchlicher Feiertage •
den Blasphemie-Paragraphen im Strafgesetzbuch (StGB) • das Schwören von Eiden
vor Gericht und in der Bundeswehr • die kirchliche Repräsentanz in
Aufsichtsgremien der Medien • die staatliche Mitwirkung bei der Ernennung
katholischer Bischöfe gemäß dem Konkordat • die staatliche Anerkennung von
Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts • die gewohnheitsrechtliche
Befugnis zum Läuten von Kirchenglocken • die Ansprachen von Bundespräsident
und Bundeskanzler an Weihnachten.
Auch die Türkei ist zwar ein laizistisches Land, womit der Islam keine
Probleme hat, aber keineswegs ein säkulares; denn die türkische Republik ist
nicht etwa religiös neutral, sondern mischt sich ungemein kräftig in das
religiöse Leben ein. Eine wirklich säkulare Türkei würde keinen
Religionsminister (Diyanet Bakani) haben, keine Vorbeter (Imame) und
Gebetsrufer (Mu’adhdhins) besolden, sowie weder Moscheen noch
Religionsattachées unterhalten, niemandem den Inhalt seiner Freitagspredigt
vorschreiben und auch kein Kopftuch verbieten. Der türkische Säkularismus
trennt den Staat von der Religion, aber nicht die Religion vom Staat. Kurzum,
man muss nach wirklich säkularen Gemeinwesen mit der Lupe suchen.
Diese Feststellung kann nicht verwundern, solange man sich bewusst bleibt, daß
Religion staatliche Autorität begründet, Wertmaßstäbe setzt sowie ethische
Anforderungen stellt und damit Staat und Gesellschaft stabilisiert. Gewiss,
sobald Religion und Staat getrennt waren, versuchten faschistische,
kommunistische und nazistische Ideologen, Staat und Moral aus sich heraus zu
begründen. Doch diese Versuche sind nicht nur sämtlich gescheitert; sie
hatten zufolge der Vergötterung von Staat und Nation fatale Folgen für die
blutige europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Im Westen der Nachkriegszeit vergötterten säkulare Ideologen zwar nicht den
Staat und die Nation, wohl aber das Individuum; die Folgen waren - und sind -
ebenfalls fatal. Schließlich wären der krasse vorherrschende Materialismus
und Konsumismus ohne die Verbannung der Religion ins Private undenkbar. Dann
hätten wir es gewiss auch nicht mit so viel moralischer Libertinage zu tun,
was nicht selten zu zerstörerischem Verhalten in der Gesellschaft und im
persönlichen Umgang geführt hat.
Im moralischen Bereich erlebt der säkulare Staat seine Grenzen. Das
Abschieben der Religion ins Private - chacun à son gout - erwies sich als
erster Schritt zu ihrer Abschaffung als gesellschaftlich wirksame Kraft.
Deutlich gesagt: Ohne verfasste Religion geht jeder Staat früher oder später,
aber ganz sicher, moralisch bankrott. Auch religiöse Sekten können das nicht
verhindern.
Vor diesem Hintergrund ist es meines Erachtens nach unumgänglich, dass wir
das fast Undenkbare denken und das beinahe Tabuisierte tun: Die Doktrin von
der Begründung des modernen Staates auf seiner Trennung von Religion zu
hinterfragen. Zumindest sollten säkular denkende Menschen einräumen, dass
beispielsweise die katholische und muslimische Kritik am Dogma der
Säkularität keineswegs „vormodernes“ Denken verrät.
Bei diesen Bemühungen sollten insbesondere folgende Ereignisse in Betracht
gezogen werden: Der europäische Säkularismus hat sich ursprünglich aus einem
militanten Laizismus bzw. einem radikalen Anti-Klerikalismus entwickelt, also
aus einer historisch gewachsenen lokalen Situation.
Es ging konkret um Bekämpfung des politischen und wirtschaftlichen
Machtmissbrauchs der christlichen Kirchen. Daraus können somit keine Lehren
für den staatlichen Umgang mit nichtkirchlichen Religionen wie dem Islam
gezogen werden.
Die Säkularisierung des 19. Jahrhunderts fußte stark auf der damaligen natur-
und geisteswissenschaftlichen Haltung, wie sie von erklärtenAtheisten wie
Feuerbach, Marx, Darwin und Freud prototypisch repräsentiert wurde. Heute
sehen wir - zumal nach der quantenphysikalischen Revolution - keinen
absoluten Widerspruch mehr zwischen Vernunft und Glauben, Wissen und
Offenbarung. Die Naturwissenschaft ist gar bei Max Planck, Albert Einstein
und Werner Heisenberg selbst wieder religiös, ja sogar mystisch angehaucht
geworden.
Die Säkularisierung gipfelte schließlich im sogenannten „Projekt der
Moderne“, dessen Verheißungen von Fortschritt, Wohlstand und Frieden
entsetzlich enttäuscht wurden - mit unmoralischen Exzessen ungeahnten
Ausmaßes wie Kolonisierung, Gaskrieg, Atomkrieg, Bombenkrieg und dem
Holocaust. Dieses Projekt und sein vorgeblicher Humanismus wurden so
fundamental diskreditiert, dass man einfach nicht weitermachen kann, als ob
nichts geschehen sei. Schon aus diesen drei Gründen erscheint es mir nicht nur
legitim, sondern auch notwendig, dass wir uns im Westen erneut mit dem
auseinandersetzen, was Säkularismus praktisch - außer der Neutralität des
Staates gegenüber seinen Religionen und ihrer Gleichbehandlung - bedeuten
soll.
In Deutschland gibt es dabei keinen Nachholbedarf, wie ich schon aufgezeigt
habe. Hier geht es nur um die Durchsetzung der Gleichbehandlung aller
Religionen, darunter des immer noch diskriminierten Islam.
In Frankreich jedoch gibt es nicht nur Nachholbedarf; dort wird bereits erheblich
an der Rechtslage von 1905, dem laicisme absolut, gekratzt. So hat sich der
derzeitige Innenminister befugt gefühlt, die muslimische Gemeinde in
Frankreich von Staats wegen zu organisieren. Er hat darüber hinaus sogar
Einfluss auf die Wahl des Vorsitzenden dieses Dachverbandes genommen - ein
bisher undenkbares Verhalten. Des Weiteren halten sich französische Gemeinden
inzwischen für dazu befugt, Muslimen Grundstücke für den Bau von Moscheen zur
Verfügung zu stellen - mit der amüsanten Begründung, dass die Muslime damit
lediglich rückwirkend den Katholiken gleichgestellt würden, die ja ihre
Kirchen vor 1789 auch aus öffentlichem Besitz erworben hätten.
Nach all dem ist die richtige Fragestellung nicht, ob Religionen eine Rolle
im öffentlichen Raum zu spielen haben, sondern welche Religionen. Damit
möchte ich darauf verweisen, dass Staatswesen in dem Maße von
Pseudoreligionen, d.h. Ideologien, bestimmt werden, in dem sie echte Religion
verbannen. Die Alternative ist also nicht Religion oder keine Religion,
sondern Religion oder Ideologie. Dafür sind Frankreich und die Türkei
prägnante Beispiele. Republikgründer Mustafa Kemal hat in der Türkei
inzwischen quasi den Status eines Heiligen, ja eines Propheten erreicht, der
dem Land auf ewige Zeiten den richtigen Weg gewiesen hat. Er ist weiterhin
über jede Kritik erhaben. Nationalfeiertage und Schulappelle werden mit
religiösem Pathos begangen. Und wenn türkische Soldaten ohne religiöse
Bindung und Betreuung im Bürgerkrieg gegen die kurdische Minderheit fallen,
werden sie „Sahit“ genannt. Jede religiöse Regung wird als „Extremismus“
bezeichnet und vom Militär und dem Bildungswesen mit Inbrunst bekämpft.
Ähnlich hat „la grande France“ inzwischen geradezu mythologische Bedeutung
gewonnen und ist zu einer Wesenheit geworden, die jedes Opfer wert ist.
Wir müssen uns daher bewusst werden, dass Religion nirgendwo nur Privatsache
ist, und die Religionen nun einmal unvermeidlich im öffentlichen Raum einen
Platz einnehmen. Dazu zählt auch Deutschland, wo der Islam inzwischen eine
der staatstragenden Religionen ist.
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