1. Geschichte der Muslime in der Schweiz
     Herausgeber: Fatih DURSUN

Die ersten Spuren der Muslime in der Schweiz finden wir zu Beginn des 10. Jahrhunderts. Im Jahre 906 überquerten die muslimischen Araber die Alpen und kamen über den Grossen St. Bernhard, wo sie einen festen Stützpunkt errichteten. Von hier aus sind sie in die weiteren Teile des Landes vorgedrungen:

Im Jahre 940 waren sie in St. Maurice und kamen nach Waadtland bis zum Schloss Chilion.

Im Jahre 939 zogen sie in die andere Richtung vor, über Wallis, Sierre, Brig, Disentis, Chur bis nach St. Gallen. Im Wallis haben sich die Muslime als Bauern, Kaufleute und Handwerker in den verschiedensten Tälern niedergelassen. Neben den Ortsnamen mit dem arabischen Ursprung sind die einzig im Wallis vorzufindenden Bewässerungssysteme, die sehr denjenigen der islamischen Ländern gleichen, sind ein Zeichen für die Anwesenheit der Muslime in diesen Ortschaften.

Andere Gruppen zogen ins Engadin, wo sie bei Pontresina eine Burg errichteten, die bis heute besteht. Pontresina, d.h. Ponto Sarrasins bedeutet "Brücke der Sarazenen". Die muslimischen Araber waren die Sarazenen. In der Schweiz ist der Begriff "Sarazenen" für Araber im Familiennamen der "Sarasin" erhalten geblieben, den man in der Nordschweiz noch trifft.

Warum sind die Muslime in der neuesten Zeit nach Europa und in die Schweiz gekommen? Wir sehen drei Hauptgründe dafür:

1. Im 19. Jahrhundert wurden viele islamischen Länder von Europa kolonisiert. Durch den Handelsverkehr ließen sich die Muslime, vor allem Händler und Seeleute in europäischen Städten nieder. Andererseits veranlasste die Entstehung unabhängiger Staaten in den ehemaligen Kolonien auch die Übersiedlung muslimischer Bevölkerungsgruppen nach Westeuropa. Davon betroffen waren hauptsächlich Frankreich, England und Holland.

 

2. Nach dem zweiten Weltkrieg und besonders in den sechziger und siebziger Jahren  begannen sich dann die Migrationsströme nach Westeuropa und der Schweiz zu ergießen, die auf politischen und wirtschaftlichen Faktoren beruhten. Im Krieg waren über 60 Millionen Menschen umgekommen und um den Wiederaufbau gemäß des Marschall-Planes voranzutreiben, brauchte Europa ausländische Arbeitskräfte.

 

3. Der Balkankrieg in Jugoslawien. In der letzten Dekade haben die Muslime aus Bosnien, Mazedonien und Kosovo wegen des Krieges und der Vertreibungen die Flucht nach Europa ergriffen.

 

 

2. Muslime in der Schweiz - Vielfalt der Muslime

In der Schweiz leben zurzeit etwa 350'000 Menschen die sich zum Islam bekennen. Es sind Muslime aus verschiedenen Ländern wie z.B. aus der Türkei, aus Bosnien- Herzegowina, Tunesien, Marokko, Iran, Irak, Ägypten, Indonesien und Pakistan. Im Kanton ZH leben Muslime aus über 50 verschiedenen Ländern der Welt.

Sie haben unterschiedliche Bräuche und zum Teil ganz eigene Praktiken der Religionsausübung. Durch eine Art Gettoisierung verhindern Muslime manchmal, dass ihre Mitmenschen sich ein Bild vom Islam und dessen Ausübung machen können. So pflegen viele eingewanderten Familien hauptsächlich Kontakt zu ihren Landsleuten und feiern mit ihnen ihre religiösen Feste. Daher können viele Einwanderer der ersten Generation, auch wenn sie schon längere Zeit hier leben, kein Deutsch oder nur wenig. In der Familie und im Freundeskreis wird die angestammte Sprache gesprochen und im Fernsehen werden Programme und Videos angesehen.

Es gibt Kinder, die, obwohl sie in der CH geboren sind und hier aufwachsen, weder Deutsch noch ihre Muttersprache gut  können.

In der Öffentlichkeit können Muslime durch ihre Kleidung auffallen, vor allem Frauen mit Köpftüchern. Außerdem ist zu bemerken, dass manche sich streng an die Vorschriften halten, d.h. kein Schweinefleisch und keinen Alkohol konsumieren.

 

Die Mehrheit der Muslime, nämlich die Eingewanderten, kommt aus Ländern, deren Staatsstrukturen von Diktatur, über einfache Monarchie bis zur laizistischen Demokratie eigener hin variieren. Trotz unterschiedlichster Herkunft haben die Muslime im Westen ein Verständnis entwickelt für die existierende, säkulare, laizistische Demokratie des Gastlandes. Für uns Muslime in der Schweiz gilt, höchsten Respekt und Akzeptanz für die hiesige Gesetzgebung und Staatsstruktur zu wahren. Wir versuchen seit Jahren, unsere Probleme im Rahmen der Gesetzgebung, mit demokratischen Mitteln zu lösen, wenn diese auch "ewig lang" dauern.

Die Muslime haben als eine religiöse Minderheit Bedürfnisse, die von der Mehrheit als solche nicht wahrgenommen werden. Wir haben Probleme, wie sie jede andere Minderheit gegenüber der Mehrheit auch hat. Wir haben diese Probleme nicht, weil wir Muslime sind, sondern weil wir eine Minderheit sind und andere Bedürfnisse haben als die restliche Bevölkerung. Andere religiöse Minderheiten in der Schweiz werden, mehr oder weniger, mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Wenn wir als Muslime unsere Bedürfnisse anmelden, bedeutet nicht, dass wir nach einer "extra Wurst" verlangen. Deswegen haben wir als Muslime keine Forderungen sondern berechtigte Bedürfnisse, die abgedeckt werden sollen - ebenso wie man die Anliegen der Auslandschweizer erfüllen möchte.

Sehr schnell werden leider die Themen, die Muslime betreffen, politisiert. Anstelle sachlich-fachlicher Handhabung wird die Angelegenheit auf die parteipolitische Plattform getragen, wo wir Muslime keine Handlungsmöglichkeiten haben. Auf Kosten der Muslime sollte keine Politik betrieben werden. Im Bereich der Pflichten jedoch nehmen Staat und Gesellschaft die Muslime als Mitbürger und -bürgerinnen sehr gut wahr und fordern die Einhaltung dieser Pflichten ein, z.B. was Steuern, Militärdienst usw. betrifft. Im Bereich der Rechte jedoch gibt es ein sehr großes Verbesserungspotential bei der Wahrnehmung, der Muslime.

Die Muslime werden hier als Fremde gesehen. Man nimmt schnell die Haltung an: "Du musst Dich hier anpassen, sonst kannst Du in Dein Land zurückkehren". Der Anteil der schweizerischen Muslime, die nirgendwohin gehen können, wird mit der Zeit immer größer: Zu diesem Teil zählen wir die konvertierten Muslime, die Eingebürgerten, die in der Schweiz geborene 2. und 3. Generation sowie die zukünftige Generationen der Eingewanderten. Diese kennen nur die Schweiz als Heimat. Wohin sollen und dürfen sie gehen?

Die muslimische Gemeinde besteht hier in der Schweiz zum größten Teil aus sozial schwächern Bevölkerungsgruppen. Trotz der großen Zahl haben die muslimischen Immigranten eine marginale gesellschaftliche Stellung in der Schweiz. Dieses spielt sich z.B. bei der Einrichtung von Gebetsstätten, Moscheen. Sie liegen meist in den ärmeren Stadtvierteln bzw. in den Industriegebieten. Sie befinden sich unscheinbar, in alten umgebauten Fabrikhallen, aufgegeben Lagerräumen oder auch in umgebauten Wohnungen und Häusern. Die Finanzierung für Kauf oder Miete sowie für Umbau und Unterhalt erfolgt durch die Muslime selber.

Der große Teil der Muslime wurde mir der Zeit unter mehreren religions-neutralen Begriffen identifiziert: Zuerst waren sie "Fremdarbeiter", dann "Gastarbeiter", dann "Ausländer" und neuerdings sind sie "Immigranten". In vielen Formularen werden wir immer noch als "konfessionslos" oder "anders" erfasst. Mit der Ausrichtung auf einen längeren Aufenthalt seitens der muslimischen Immigranten wuchs das Bedürfnis nach religiöser, sozialer und kultureller Organisation. Dies führte zu Gründungen von Kulturzentren, religiösen Vereinen und Gebetstätten. Die meisten von Ihnen haben hier Fuß gefasst und Wurzeln geschlagen. Sie sind verheiratet und haben Kinder, die hier die

Schulen besuchen, Schweizerdeutsch sprechen und die christlichen Traditionen und Bräuche vermittelt bekommen. Diese Kinder wachsen mehr in der schweizerischen als in der angestammten elterlichen Kultur auf. Sowohl die erste Generation als auch die 2. und mittlerweile die 3. Generation von Muslimen haben, jedoch religiöse Bedürfnisse.

 

Bis vor kurzem wurde in Westeuropa der Islam als Religion einer wachsenden Zahl von Immigranten kaum wahrgenommen. Die negative Wahrnehmung erfolgte dann durch gewisse politischen Ereignisse wie z.B. "Rushdi-Affäre" in Großbritannien, Golfkrieg, 11. September, "Kopftuch-Affäre" in Frankreich usw. Diese negative Wahrnehmung, unterstützt durch Vorurteile, falsche Klischee-Bilder und durch die gegenseitigen Ängste, verhindert eine echte menschliche, ja nachbarschaftliche Beziehung.

 

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Muslime, die von ihren Ursprungsländern in das an Freiheit gewohnte Abendland umsiedeln, müssen eine fundamentale Veränderung ihres Lebensgewohnheiten vollziehen, damit sie Teil der abendländischen Gesellschaft werden können. Umgekehrt brauchen die Abendländer Verständnis und Geduld, bis die Muslime diesen Wandel vollzogen haben. Ebenso sollten die Abendländer auch bereit sein, gewisse Eigen- und Verschiedenheiten der eingewanderten Muslime zu respektieren, etwa die «Kopftuchpflicht». Es ist ein religiöses Gebot, an das sich manche Muslimas halten wollen, andere nicht. Die Frauen, welche dieser Pflicht nachkommen, sollte die Gesellschaft nicht mit einem Verbot begegnen. Nur so lässt sich die Angst vor den Muslim

abbauen.

 

3. Ausblick

 

Ich bin überzeugt, dass es unabdingbar ist, der Öffentlichkeit ein unverzerrtes Bild des Islam und der Muslime zu vermitteln. Dies einerseits von Seiten der Muslime durch Veranstaltungen wie diese und intensivere persönliche Kontakte. Andererseits sind auch Behörden und vor allem die Medien gefordert. Ich möchte sie eindringlich bitten, sich von ihren Vorurteilen und Klischeevorstellungen zu lösen und sich an die Muslime selbst und nicht an selbsternannte „Islamexperten" zu wenden. Dazu muss man natürlich eine gewisse Schwellenangst überwinden. Ich bin aber überzeugt, dass dies eine Bereicherung für beide Seiten darstellen wird.

Die Muslime erstreben sicher keine Sonderrechte, sondern lediglich das Recht, als geachtete und verstandene Menschen, als Teil dieser Gesellschaft und nicht als Fremdkörper in diesem Lande, leben zu können. Was die Schweizer Muslime brauchen, sind offene Kultusräume, um ihre Religion praktizieren zu können, die Möglichkeit, ihren Kindern in der Schule die religiösen Werte zu vermitteln und die Möglichkeit, im Spital oder im Sterbefall die religiösen Gebote zu achten. Dies sind nicht nur Minderheitsrechte, sondern auch die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration. Wir wissen auch, dass Unwissenheit, Vorurteile und Intoleranz unsere größten Feinde sind, die wir nur gemeinsam mit Christen, Juden und anderen Religionsangehörigen bekämpfen können.

Daher sind die Muslime in der Schweiz bestrebt, Begegnungen zu organisieren und Dialoge zu führen, um das Verständnis und den gegenseitigen Respekt zu fördern. Das ist ein kontinuierlicher Prozess der beidseitigen Anpassung und der gemeinsamen Gestaltung unserer Zukunft.

 

Abû Schuraih (r) berichtete:

Allâhs Gesandter (s) hat gesagt:

"Bei Allâh, er hat keinen Glauben! Bei Allâh, er hat keinen Glauben!

Bei Allâh, er hat keinen Glauben!"

Jemand fragte: "Wer, Allâhs Gesandter?"

Er antwortete: "Derjenige, vor dem sich sein Nachbar nicht sicher fühlt."

(Bukhârî)

 

 

 

 

Ein weiterer Vortrag über: Muslime in der Schweiz von Hamit Duran